Lieber Gerry,
für mich handelt dieses tolle Bild von der modernen Wahrnehmung - wobei ich unter "modern" hier eine historische Erfahrung meine, die sich in den Künsten seit spätestens dem Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder artikuliert hat, aber dadurch auch einen strukturellen Begriff. Dass es sich um ein Bild über die Art der Wahrnehmung handelt, hängt mit der Fenstersituation und dem durch das Fenster gegebenen Ausschnitt zusammen.
Die Bildgestaltung setzt ganz auf die Ausschnitthaftigkeit: Links ist Rot gerade in dem Augenblick festgehalten, indem es die wie eine Theaterbühne wirkende Szenerie betritt und symmetrisch dazu rechts Blau im Verlassen der Szenerie. In der Mitte bzw. im Augenblick der Annäherung an die Bildmitte die drei ähnlich getakteten Schwarzbehosten, durch die Gullynähe freundlich ironisiert.
Moderne Wahrnehmung: ausgeliefert an eine übergroße, überfordernde, unübersichtliche, chaotische Welt, die nicht architektonisch sinnhaft gebaut, sondern durch und durch zufällig ist und darum auch nur Wahrnehmungsfragmente zulässt. Das Einzelne repräsentiert nicht das Ganze, sondern tritt immer wieder neu und unvorhersehbar auf, so dass auch das Wahrnehmungszentrum, das Ich, kein stabiles, mit sich identisches Ich sein kann (das ist hier sehr schön durch den unteren Bildrand dargestellt: Er scheint überflüssig zu sein, ist es aber nicht, weil durch das Heraufsteigen von der Heizung über das Fensterbrett bis zum Fensterrahmen die massive Aufsicht noch einmal gesteigert wird, so dass der fiktive Standort des Betrachters ins Schwimmen gerät, verstärkt dadurch, dass der Standort leicht rechts der Bildmitte gewählt wurde).
Auf diesem Photo sieht ein Bewusstsein, in dessen Wahrnehmungsfeld für einen kurzen Moment etwas ganz Zufälliges eintritt, das im nächsten Moment durch etwas ebenso unvorhersehbar Zufälliges abgelöst wird. Das erinnert mich an Verse von Tucholsky aus "Augen in der Großstadt":
"Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder."
Und das Grandiose dieses Photos besteht darin, diesen verschwindenden, zufälligen Augenblick sinnhaft zu gestalten.
Dieses "tribute to" scheint mir weit über dieses Einzelbild oder andere solcher einzelnen Bilder hinauszugehen. Auf verschiedene Weisen thematisierst Du ja immer wieder das, was Du der Photographiegeschichte zu verdanken hast. Ich finde, das gehört ganz wesentlich zu Deiner photographischen Arbeit dazu, das Einzelbild in einen zumindest stillschweigenden Kontext mit anderen Bildern hervorragender Photographen zu stellen, d.h. nicht naiv, sondern gebildet zu photographieren. Ich finde das sehr schön und eindrucksvoll. Vor allem durch die Art und Weise, in der Du das machst: Es geht nicht darum, etwas zu kopieren, einen Stil zu übernehmen etc., sondern an exzellenten Künstlern etwas zu lernen und dadurch das Eigene zu bereichern - nur aus dem Bewusstsein für das Eigene, nur durch Freiheit und für die Freiheit ist eine solche Bindung produktiv.
Und so sehe ich einerseits in diesem Bild eine höchst respektvolle Hommage an die exzellente Photographie Siegfried Hansens mit ihrer ganz spezifischen Bildsprache; und andererseits wird mir, bei aller Nähe zwischen Euch beiden, doch der Unterschied deutlich: Siegfried tendiert meiner Meinung nach zu einer "Perfektionierung" des Zufalls, zu einer Stilisierung, in der der Zufall durch die Bildgestaltung absolut wird und nahezu in sein Gegenteil, in die Notwendigkeit umschlägt - bei Dir erhält sich in meinen Augen dagegen immer die unreduzierbare Unmittelbarkeit des Lebens, der Anteil, durch den die Lebendigkeit und Berührbarkeit der Realität sich nicht mehr in eine Gestaltung überraschender und erstaunlicher Bezüge auflösen lässt - die absolute Konstruktion vs. die Konstruktion, die offen dafür bleibt, sich von der Realität überwältigen zu lassen, so würde ich diesen Unterschied zusammenfassen.
Oh, diese Anmerkung ist etwas länger geworden... Falls sich jemand beschweren sollte, werde ich, lieber Gerry, die Schuld sofort auf Dich schieben: Was kann ich dafür, dass Deine Werke mir viel zu denken geben?...
Liebe Grüße von
Lucius
Edit: Zu @Frank Kellers interessanter Anmerkung würde ich sagen: Gerrys und Siegfrieds photographische Konzepte sind so ausgearbeitet, selbstständig und eigen, dass sie, bei laller Nähe, für sich selbst stehen; daher käme für mich eine Bewertung in "besser" oder "schlechter" nicht infrage; nur vom eigenen Eigenen, also von der persönlichen Position her kann ich sagen: dass eine steht meinem eigenen Denken und Sehen näher als das andere und hat eher die Funktion, die ich oben als Gerrys Lernen an der Photographiegeschichte zu beschreiben versucht habe.
Lieber Gerry, manchmal wundere ich mich in der Kunst über den Geschmack der Mehrheit - ich finde deine Arbeit in der Bewusstheit für die räumlichen Möglichkeiten, für den Rahmen, den die Architektur hier vorgibt, wesentlich kunstvoller als das von dir zitierte - das halte ich, abgesehen vom Schnitt über die Bodenfließen, die hier fein diagonal verlaufen, für ausgesprochen zufällig - aber ich muss ja auch nicht alles verstehen - manchmal glaube ich aber, dass für unseren Geschmack und seine Bildung wichtig ist, dass wir uns nicht beeinflussen lassen - und bei dem von dir zitierten Bild verstehe ich den "Editors usw." nicht - ich weiß, dass ich dir all das schreiben darf und ich weiß auch, dass du verstehst, was ich meine, ohne den von dir Zitierten herabsetzen zu wollen.
_visual_notes_ 21/01/2015 17:31
Alles schon oben gesagt ... ich finde es auch voll gelungen.kraus-martin 21/01/2015 17:19
Hervorragend !!!Ela Ge 21/01/2015 16:16
Ja, das mag ich auch und wird Siegfried gerechtLucius Sombre 21/01/2015 12:47
Lieber Gerry,für mich handelt dieses tolle Bild von der modernen Wahrnehmung - wobei ich unter "modern" hier eine historische Erfahrung meine, die sich in den Künsten seit spätestens dem Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder artikuliert hat, aber dadurch auch einen strukturellen Begriff. Dass es sich um ein Bild über die Art der Wahrnehmung handelt, hängt mit der Fenstersituation und dem durch das Fenster gegebenen Ausschnitt zusammen.
Die Bildgestaltung setzt ganz auf die Ausschnitthaftigkeit: Links ist Rot gerade in dem Augenblick festgehalten, indem es die wie eine Theaterbühne wirkende Szenerie betritt und symmetrisch dazu rechts Blau im Verlassen der Szenerie. In der Mitte bzw. im Augenblick der Annäherung an die Bildmitte die drei ähnlich getakteten Schwarzbehosten, durch die Gullynähe freundlich ironisiert.
Moderne Wahrnehmung: ausgeliefert an eine übergroße, überfordernde, unübersichtliche, chaotische Welt, die nicht architektonisch sinnhaft gebaut, sondern durch und durch zufällig ist und darum auch nur Wahrnehmungsfragmente zulässt. Das Einzelne repräsentiert nicht das Ganze, sondern tritt immer wieder neu und unvorhersehbar auf, so dass auch das Wahrnehmungszentrum, das Ich, kein stabiles, mit sich identisches Ich sein kann (das ist hier sehr schön durch den unteren Bildrand dargestellt: Er scheint überflüssig zu sein, ist es aber nicht, weil durch das Heraufsteigen von der Heizung über das Fensterbrett bis zum Fensterrahmen die massive Aufsicht noch einmal gesteigert wird, so dass der fiktive Standort des Betrachters ins Schwimmen gerät, verstärkt dadurch, dass der Standort leicht rechts der Bildmitte gewählt wurde).
Auf diesem Photo sieht ein Bewusstsein, in dessen Wahrnehmungsfeld für einen kurzen Moment etwas ganz Zufälliges eintritt, das im nächsten Moment durch etwas ebenso unvorhersehbar Zufälliges abgelöst wird. Das erinnert mich an Verse von Tucholsky aus "Augen in der Großstadt":
"Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder."
Und das Grandiose dieses Photos besteht darin, diesen verschwindenden, zufälligen Augenblick sinnhaft zu gestalten.
Dieses "tribute to" scheint mir weit über dieses Einzelbild oder andere solcher einzelnen Bilder hinauszugehen. Auf verschiedene Weisen thematisierst Du ja immer wieder das, was Du der Photographiegeschichte zu verdanken hast. Ich finde, das gehört ganz wesentlich zu Deiner photographischen Arbeit dazu, das Einzelbild in einen zumindest stillschweigenden Kontext mit anderen Bildern hervorragender Photographen zu stellen, d.h. nicht naiv, sondern gebildet zu photographieren. Ich finde das sehr schön und eindrucksvoll. Vor allem durch die Art und Weise, in der Du das machst: Es geht nicht darum, etwas zu kopieren, einen Stil zu übernehmen etc., sondern an exzellenten Künstlern etwas zu lernen und dadurch das Eigene zu bereichern - nur aus dem Bewusstsein für das Eigene, nur durch Freiheit und für die Freiheit ist eine solche Bindung produktiv.
Und so sehe ich einerseits in diesem Bild eine höchst respektvolle Hommage an die exzellente Photographie Siegfried Hansens mit ihrer ganz spezifischen Bildsprache; und andererseits wird mir, bei aller Nähe zwischen Euch beiden, doch der Unterschied deutlich: Siegfried tendiert meiner Meinung nach zu einer "Perfektionierung" des Zufalls, zu einer Stilisierung, in der der Zufall durch die Bildgestaltung absolut wird und nahezu in sein Gegenteil, in die Notwendigkeit umschlägt - bei Dir erhält sich in meinen Augen dagegen immer die unreduzierbare Unmittelbarkeit des Lebens, der Anteil, durch den die Lebendigkeit und Berührbarkeit der Realität sich nicht mehr in eine Gestaltung überraschender und erstaunlicher Bezüge auflösen lässt - die absolute Konstruktion vs. die Konstruktion, die offen dafür bleibt, sich von der Realität überwältigen zu lassen, so würde ich diesen Unterschied zusammenfassen.
Oh, diese Anmerkung ist etwas länger geworden... Falls sich jemand beschweren sollte, werde ich, lieber Gerry, die Schuld sofort auf Dich schieben: Was kann ich dafür, dass Deine Werke mir viel zu denken geben?...
Liebe Grüße von
Lucius
Edit: Zu @Frank Kellers interessanter Anmerkung würde ich sagen: Gerrys und Siegfrieds photographische Konzepte sind so ausgearbeitet, selbstständig und eigen, dass sie, bei laller Nähe, für sich selbst stehen; daher käme für mich eine Bewertung in "besser" oder "schlechter" nicht infrage; nur vom eigenen Eigenen, also von der persönlichen Position her kann ich sagen: dass eine steht meinem eigenen Denken und Sehen näher als das andere und hat eher die Funktion, die ich oben als Gerrys Lernen an der Photographiegeschichte zu beschreiben versucht habe.
Klaus-Günter Albrecht 21/01/2015 12:05
Schritte!Liebe Grüße Klaus
Harald Hagedorn 21/01/2015 11:51
wieder mal klasse, gerry. auch ohne die Hommage ;-)lg harald
Frank Keller 21/01/2015 10:37
Lieber Gerry, manchmal wundere ich mich in der Kunst über den Geschmack der Mehrheit - ich finde deine Arbeit in der Bewusstheit für die räumlichen Möglichkeiten, für den Rahmen, den die Architektur hier vorgibt, wesentlich kunstvoller als das von dir zitierte - das halte ich, abgesehen vom Schnitt über die Bodenfließen, die hier fein diagonal verlaufen, für ausgesprochen zufällig - aber ich muss ja auch nicht alles verstehen - manchmal glaube ich aber, dass für unseren Geschmack und seine Bildung wichtig ist, dass wir uns nicht beeinflussen lassen - und bei dem von dir zitierten Bild verstehe ich den "Editors usw." nicht - ich weiß, dass ich dir all das schreiben darf und ich weiß auch, dass du verstehst, was ich meine, ohne den von dir Zitierten herabsetzen zu wollen.LG von Frank
Brigitte H... 21/01/2015 9:28
wunderbar..!lg Brigitte
Peter Schwindt 21/01/2015 8:43
So ist das. Grandioses Bild auch.andrea aplowski 21/01/2015 7:43
Mir gefällt deine Bildaufteilung, deine Gestaltung.lg andrea
Frederick Mann 21/01/2015 7:41
I see
marie-antoinettesgiraffenhals 21/01/2015 7:14
Zahnstange und Fussangeln.Lichtmalerin67 21/01/2015 5:53
ja, gut so, ich mein die aufnahme und die ehrung von herrn HansenWolfgang Bazer 21/01/2015 1:05
Sehr gut so!LG Wolfgang
Frau Luna. 21/01/2015 0:05
Bravo! Das ist gut!LG Martina