Gedicht

Gedicht

von meinem Freund
Bernd Giehl

Dieses Gedicht
wird Zeit brauchen. Über mir
dreht sich der Sonnenschirm
und unter mir wartet
Seine Majestät der See
auf meine Huldigung. Aber ich
bin wieder woanders mit den Gedanken.
(Schöne Bescherung)
*
Dieses Gedicht
wird Zeit brauchen. So wie
das Val Verzasca
mit seinem smaragdgrünen Wasser
zwischen den glatten grauen Felsen
die ein Bildhauer geformt hat
zu Riesenskulpturen jenseits der Sprache
in Jahrtausenden.
*
Dieses Gedicht
wird Zeit brauchen.
Ein wenig von dem
was die Menschen dort oben
hatten
jahrhundertelang
eingesperrt in ihre engen Häuser
aus grauem Bruchstein
ohne Straße ins Tal
zwischen den Steinen pflügend
mit einer Kuh
oder einer Ziege als kostbarem Besitz.

Was wussten sie schon
ob unten am See Italien regierte
oder Frankreich die Freiheit ausrief
oder die Eidgenossen
die Steuern erhöhten

und wenn sie in die Ebene kamen
dann als Wanderarbeiter
auf Maultierpfaden
für eine Saison
belächelt
ob ihrer seltsamen Sprache
die „verzasca“ sagte
statt „verd ‘aqua“
oder ganz richtig „aqua verde“
aber ganz richtig
waren sie wohl nie
in ihrem eigensinnigen Kopf.
*
Dieses Gedicht
wird Zeit brauchen. Deshalb
fahren wir mit unseren Autos
ins Val Verzasca
halten auf einem Parkplatz
essen Prosciutto im Gasthaus
trinken weißen Merlot oder Aqua Minerale
und machen ein paar Aufnahmen
vom smaragdgrünen Wasser
und grauen Bruchsteinhäuschen
an die Felsen geklebt
in denen jetzt Touristen wohnen
- fürs Fotoalbum
und die Lieben daheim.
*
Dieses Gedicht
wird Zeit brauchen. Meine
und Ihre
und nur die Toten
werden sie aufbringen
die Zeit, die teure Zeit,
die uns fehlt, so lange schon
aber was wissen wir schon
von den Toten
oder von uns

BERND GIEHL