100 Jahre Leben

100 Jahre Leben

Ranthambore, Rajasthan, India

Zwischen den Tiger-Safaris streifte ich das eine oder andere Mal durch das kleine Bauerndorf, durch welches die Touristen ueblicherweise in ihren Canteers hindurchbrausten.

Eine etwas ungewoehnliche Szene fuer die hiesigen Einwohner, da Touristen nur sehr selten Interesse am gemeinen Volk und dessen unvorstellbar einfachem Dorfleben zeigten. Dieser Umstand erleichterte mir auf der einen Seite den Kontakt erheblich, auf der anderen Seite aber sahen die Dorfbewohner in mir primaer den reichen Westler - die Weihnachtsgans, welcher das Geld um Ehrenwertesten herauswachst. Ich musste einiges an Zeit und Geduld investieren, um den Einwohnern auf einer etwas ausgeglicheneren Ebene begegnen zu koennen.

Meine fuer reichlich Belustigung sorgende Aktion, bei der ich rund eine halbe Stunde am Dorfbrunnen stand und allen Frauen Wasser in ihre Kruege pumpte, trug neben einigem Aufsehen sicherlich auch zur Begegnung mit der abgelichteten Frau dar.

Sie war die Ur-Grossmutter eines Jugendlichen, mit dem ich mich nicht nur in meinen Hindi-Standardsaetzen, sondern auch noch ein wenig in Englisch unterhalten konnte. Auch wenn sich die Unterhaltung mit ihr auf nur sehr rudimentaerer Basis abspielte, wusste sie nur schon mit ihrer Prasenz einiges zu erzaehlen. Wie einem Baum sah man ihr das Alter an, wobei die Familienmitglieder munkelten, sie waere ueber 100 Jahre alt. Sie selber wusste ihr Alter nicht mehr so genau.
Auf jeden Fall sah man ihr an, dass sie einiges erlebt hatte und fuer ihr taegliches Leben kaempfen musste, wie wir es uns nicht mal zu traeumen wagten. Eine Frau, die zwei Weltkriege, die grossen lebensveraendernden Erfindungen eines Jahrhunderts und die Wandlung eines von Kolonialherren regierten Landes hin zur groessten Demokratie erlebt und wahrscheinlich auch verinnerlicht hatte.

Fuer mich ein Moment des Demuts, ob der Vorteile, die ich in meinem taeglichen Leben geniessen darf.