Matthias von Schramm


Premium (World), Hamburg

Alstertalromanze 273

26.9.2011 im schönen und lieblichen Alstertale S-Bahn Hoheneichen


Nachbarin und Nachbar im Alstertal 4

Nun habe ich durchaus meine Probleme mit Frauen, die ihre Freundinnen Püppi oder Prinzesschen nennen und Herzchen am Fußkettchen tragen. Das klingt nach Vollmilch ohne Nuss, nach Himbeereis ohne Frühstück. Nach Alpha im luftleeren Raum ohne Beta. In dieser Welt sind Männer fehl am Platz. Aber ich muss die Sylvia nun auch irgendwie nehmen wie sie ist und vor allem wo sie steht. Und ein Leben ohne sie kann ich mir zwar vorstellen, möchte es aber nicht.

Sie hat den ultimativen Mund. Das mag sein, dass dies des Rätsels Lösung ist. Dahinter zwar ein Gebiss wie Doris Schröder Köpf, aber diese Vanilleeisschmelzlippen. Zart und gleichzeitig etwas ordinär, rissig, apfelsinig und gleichzeitig rosa. Lyrisch und zugleich Prosa. Dazu Wangen wie gedünstete Putenbrust, Schenkel freilaufend und frisch und Haxen von edlem wuchs. Das ihr Geist dem eines Teenagers mit Unterschulreife entspricht ist hinnehmbar, da ich die Faszination einer gewissen sozialen Intelligenz erhoffe. Sie läuft manchmal, wenn der Boris, wie an diesem Wochenende beim Vater kartoffelt, bei Morgentau hinunter zur Alster, steht in ihren kurzen Hosen am Fluss, mit ihren dünnen hübschen Beinchen und popelt in der Nase und überprüft am kleinen Finger leckend, dass Aroma ihres Ohrenschmalzes.

Sie ist eine schöne Frau. Kein Zweifel. In ihrer Unbeholfenheit etwas unhanseatisch, kein Hamburger Deern mit dem man Fischbrötchen stehlen und Petersilie umtopfen kann. Aber doch so wohlgeraten, dass ihr leichter Mecklenburger Einschlag sowohl charakterlich als auch sprachlich hinnehmbar ist. Ich folge ihr in sicherer Entfernung um sie vor dem Essen noch genauer zu studieren, um ihren Gang zu betrachten. Sie spricht freundlich mit Jugendlichen, die mit dem Skateboard durch die S-Bahn Halle brettern, die ihr nach pfeifen und sich anschließend mit obszönen Gesten über sie lustig machen. Als sie weg ist, stelle ich die Jungs zur Rede, ob sie nicht meinen, dass man sich einer Dame gegenüber anders verhält. Die Jungs müssen sich bei mir entschuldigen. Ich drehe ihnen noch die Ohren rot und sage, dass ich das nicht noch einmal erleben möchte. Einer der Jungs meint, ich würde mich nach Gutsherrenmanier aufführen, was er lieber nicht gesagt hätte. Der darf jetzt eben mal meinen Zaun streichen.

Ich koche das Boeuf Stroganoff und am Nachmittag bringt mein Schwager eine Kiste des guten Bordeaux. Noch bis 18 Uhr leere ich drei Flaschen um für das Dinner eine Stimmungsgrundlage zu haben. Sie erscheint in langer neuer Jeans, welche sie über den Hüftknochen trägt. Sie kleidet ein enges Knospen betonendes T-Shirt in gedecktem beige, welches aber nur knapp bis zum Bauchnabel reicht. Auf dem Bauch steht das Wort „Boris“ tätowiert, in ihrem rippigen Dekollete ruht ein Löwenzahn. Wir geben uns die rechte Hand, wie unter zivilisierten Westdeutschen üblich und ich beginne erst einmal mit einer Hausführung.
„Dies ist das Schlafzimmer, z.B.“

Ich gehe zur subtilen Zwischenphase über und erzähle während des Essens ein wenig von mir.

„Ich bin im März 51 geworden, in Sasel und Barmbek aufgewachsen. Mein Vater war Witwer bereits vor meiner Geburt. Geschwister habe ich nicht, außer einer Schwester in Südjemen. Meine Frau und ich leben getrennt, geplante Scheidung nächstes Jahr. Die Kinder sind aus dem Haus. Der Junge heißt Fritz, die Tochter Kola. Er ist Fruchtwassertester in Stockholm, sie lebt als Survivaltrainerin in Laos. Enkelkinder habe ich nicht, oder sie sind tot.“

Sylvia hört gespannt zu. Sie nickt höflich, es ist ihr aber deutlich anzumerken, dass sie kein Wort versteht.

„Und du?“

Sie strahlt auf einmal und sagt: „Mein Papi hat mir das Küssen beigebracht. Da war ich 22.“ Sie sitzt jugendlich im Schneidersitz auf dem Stuhl und zermatscht lustvoll die Kartoffeln in der Sauce. Sie zieht ein Foto aus ihrer Gesäßtasche.

„Das ist Papi!“ Ich sehe einen Mann mit dem Erscheinungsbild von James Nachtwey.
„Papi ist der Beste!“ Sie verschlingt das Essen grade zu.
„Du hast gut gekocht!“ lobt sie.
„Und der Vater von Boris?“, frage ich verdutzt.
„Der kann nicht küssen. Das wurde nichts mit uns.“

Das muss ich erst einmal verdauen, drum leere ich noch eine Flasche Wein in zwei groben Zügen.


28. September 2011

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