Jolifanto1960


Premium (World), Mutlangen

Du, Mutter in Russland ...

Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo - Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:
dann:
In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben -
die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen -
eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig, unaufhaltsam - der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken -
in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln -
in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen - das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln — zerbröckeln — zerbröckeln —
dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend - und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn – wenn – wenn ihr nicht NEIN sagt.
Wolfgang Borchert: Dann gibt es nur eins!
Zum Muttertag 2022

Comentarios 7

  • gatst 10/05/2022 21:27

    Die Rose ist für viele Anlässe geeignet, hier wirkt sie wie zur Trauer.
    Wenn ich die Zeilen lese kommt wie so oft in den letzten Tagen die Frage auf: Wo ist eigentlich die Vernunft und der sogenannte gesunde Menschenverstand abgeblieben?
    Manchmal ist mir nur noch schlecht.
    Gruß Adolf!
  • Sybille Treiber 08/05/2022 17:20

    Eine sehr eindringliche Präsentation zum diesjährigen Muttertag.
    Sehr gelungen und passend Dein Foto.
    LG Sybille
  • Monsieur M 08/05/2022 16:51

    Text und Bild, Daumen hoch!!!
    LG Norbert
  • reibol 08/05/2022 15:20

    Welch eine Komposition aus schönem Bild und nachdenklich machendem Text!
    VG Reinhold
  • Thomas Alm 08/05/2022 15:14

    Und das war 1947....
    Nachdenkliche Grüße
    Thomas
  • Hans Pfleger 08/05/2022 13:46

    man hatte ja schon Hoffnung, dass man Borcherts Worte nur noch im Antiquariat findet.Und wie aktuell sind sie leider geworden und ich befürchte, sie bleiben auch jetzt wieder ungehört.Mit der roten Rose, die im Dunkeln blüht, hast Du den passenden bildlichen Rahmen dazu gefunden
  • Katrin-Maria 08/05/2022 12:05

    Eine sehr ansprechende Bildkomposition, die ich mir sehr gut auch als Kondolenzkarte vorstellen kann: Das Motiv vereint Liebe, Trauer,  Hoffnung durch den zarten Lichteinfall an der Rosenberger. Kompliment für dieses Betrachtungsgeschenk. VG Katrin