Matthias von Schramm


Premium (World), Hamburg

Für N.

Wieder mal eine kleine Wienbildunterbrechung - altes Bild und ganz neuer Text.

Für N.

Der Bahnsteig ist wie leer gefegt um diese Zeit. Ihre Wangenknochen sind markanter, als vor zehn Jahren. Aber diese Augen leuchten immer noch. Getrübt nur ein wenig von den Einschlägen, die immer näher kommen. Immer wieder der Tod in der Familie. Bei manchen hört das nie auf. Wir fallen wie zwei geprügelte Vagabunden in schlaffe und dünne Arme. Dieser sensationelle Mund ist etwas schmaler geworden. Aber immer noch schön. Ihr Kuss auf meine Wange, ihre schlanke kleine Hand auf meinem Kopf.

Mann und Kinder? Die alte Leier. Während der kurzen Bahnfahrt schweigen wir. Ich habe mich an ihrem vierzigsten Geburtstag nicht gemeldet. Das ist mir ein wenig peinlich. Ich sei doch sonst so zuverlässig. Sie lächelt und streichelt wieder über meinen Kopf. Erst zaghaft, dann beherzter. Ich rühre sie immer noch an, gibt sie zu. Bei ihr daheim angekommen, bekocht sie mich. Alles gesund, alles Gute für mich. Ich soll abnehmen.

„Schlimm?“, frage ich. Keine Antwort. Nur ein paar beinahe heimliche Tränen. Dann ganz offene. Wir sitzen nebeneinander. Trost tut gut. Von den alten gemeinsamen Freunden ist niemand mehr da. Die einen aus den Augen, die anderen keinen Sinn. Warum musste sie auch an das andere Ende der Republik ziehen, dort wo man täglich von Mundart und Mentalität erschlagen wird. Da gibt’s Amateurtheater und Bürgerfeste und ein paar Initiativen für Grünflächen. Man darf die Leute hier freilich nicht überfordern, sonst wird man öffentlich geschlachtet.

„Das wäre schade!“, flüstere ich und streichle ihr Haar, dort wo sie es noch nicht nachfärben konnte. Naja, zehn Jahre sind eben eine lange Zeit. Dann doch wieder ein paar Tränen.
„Du hast den Krebs damals doch besiegt! Du wirst ihn auch wieder besiegen!“ Ich versuche Mut zu machen. Sie schüttelt leise mit dem Kopf. N. verschwindet wortlos im Schlafzimmer. Ein paar Minuten später folge ich ihr.



12. Juli 2009

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