Wo die Weißwurst schwimmen lernt...
Es wäre vermutlich stark übertrieben, wenn man die Geschichte der Neigetechnik-Züge in Deutschland glorifizieren würde: Mitte der 1980er Jahre beschäftigten sich kluge Köpfe bei der Deutschen Bundesbahn mit der Idee, wie man ohne den aufwendigen, zeitraubenden und vor allem extrem teuren Aus-, Um- oder Neubau von Schienenstrecken die Reisezeiten zwischen den Oberzentren verkürzen könnte. Fündig wurde man in Italien, wo die dortigen Staatsbahnen mit dem Einsatz von Neigetechnik-Zügen große Erfolge hatten.
Das Prinzip dahinter ist so simpel wie genial: Um den auf den Reisenden unangenehm wirkenden Fliehkräften entgegenzuwirken neigten sich die Wagenkästen der Züge wie ein Motorradfahrer in die Kurve. Durch diese Kompensation war es möglich die Strecken ohne teure Umbaumaßnahmen schneller zu befahren, was sich besonders auf sehr kurvenreichen Strecken positiv auf die Gesamtfahrzeit auswirkte. Die Geschwindigkeit der Züge konnte um bis zu 30 % gesteigert werden, die Fahrzeiten konnten verkürzt werden.
Mit den 20 Triebwagen der Baureihe 610, welche 2014 größtenteils abgestellt wurden, begann im Nahverkehr zwischen Mittel- und Oberfranken das Neigetechnik-Zeitalter in Deutschland. Die Nachfolgebaureihen 611 und 612 machten jedoch eher durch Unzuverlässigkeit, Pannen und Ausfälle von sich reden. Hinzu kamen die hohen Einstiege der Züge, das Brummen und Dröhnen der unterflur angeordneten Aggregate sowie eine gewisse Enge im Fahrgastraum. Letzteres ist der Tatsache geschuldet, dass die Wagenkästen auch bei voller Neigung nicht die vorgesehenen Lichtraumprofile überschreiten durften um Kollisionen mit entgegenkommenden Züge, Bahnsteigen oder anderen Bauwerken entlang der Strecken zu vermeiden.
Für den Fernverkehr beschaffte die damalige DB Reise & Touristik AG in mehreren Serien elektrische Triebzüge der Baureihe 411 und 415, welche zunächst auf der Route Stuttgart - Zürich und später auch Frankfurt - Dresden und München - Jena - Berlin - Hamburg zum Einsatz kamen.
Hinzu kam eine Serie von 20 Dieseltriebzügen der Baureihe 605, welche auf der Franken-Sachsen-Magistrale Nürnberg - Hof - Dresden sowie auf der Route München - Lindau - Zürich eingesetzt wurden. Doch das, was die Reisenden und Personale mit den Fahrzeugen erleben durften stellte das was man meinte mit den Reihen 611 und 612 erlebt zu haben bei Weitem in den Schatten. Dies gipfelte dann sogar in der kompletten Abstellung aller Züge über einen längeren Zeitraum, ehe sie während der Fußball-WM 2006 im Sonder- und Charter-Verkehr ein kleines Comeback feiern durften - allerdings ohne Neigetechnik.
Der Einsatz der Züge hatte sich in den letzten Jahren auf die Route von Deutschland über die Vogelfluglinie nach Dänemark konzentriert, wobei absehbar ist, dass diese Einsätze ebenfalls bald enden werden: Zum Jahresende 2016 beendet die Deutsche Bahn die Kooperation mit den Dänischen Staatsbahn und wird die Baureihe 605 dann abstellen.
Während unseres Sommerurlaub unternahmen wir auch zwei Ausflüge nach Fehmarn, wobei uns das Wetter bei beiden Tagen alles andere als hold war. Vom Verbindungssteg zwischen dem Abfertigungsgebäude von Scandlines und deren Verwaltungsgebäude in Puttgarden hat man einen guten Ausblick auf den Be- und Entladeprozess der Fähren. In deren Bäuchen überqueren nicht nur Lkw und Autos, sondern regelmäßig über den Tag verteilt auch Züge den 19 Kilometer breiten Fehmarnbelt, welcher in einigen Jahren mithilfe einer festen Verbindung aus Tunneln und Brücken passiert werden soll.
Auf der obigen Aufnahme verlässt der Triebzug 605 017 "København" als ICE 36 von Oesterport nach Hamburg Hbf die Doppelendfähre "Deutschland", welche übrigens in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 2010 an der Rettungsaktion von über 200 Personen beteiligt war, welche sich zuvor auf der nördlich von Fehmarn in Brand geratenen "Lisco Gloria" befunden hatten.
Weitere Informationen zur Baureihe 605 findet man hier ...
https://de.wikipedia.org/wiki/DB-Baureihe_605
... zum geplanten Ausbau der Verbindung zwischen Deutschland und Dänemark hier ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Feste_Fehmarnbeltquerung
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Noch mehr Neigetechnik-Züge aus meinem Archiv ....
Joachim Schmid BW 29/03/2016 17:52
Solche Bilder sieht man auch nicht jeden Tag!Klasse.
Gruß Joachim
Kurbelwelle 28/03/2016 16:25
Schön festgehalten.Und vielen Dank für die ausführlichen Informationen, auch in den verlinkten Bildern.Das Tor neben dem Triebzug war vor kurzem ein paar Schlagzeilen wert:
http://www.spiegel.de/panorama/puttgarden-ice-durchbricht-tor-zur-faehre-a-1071119.html
LG Kurbelwelle
Thomas Reitzel 28/03/2016 13:31
Dem kann ich mich nur anschließen; sehr gut gemacht.heute würde man kaum nach Puttgarden fahren, um den Fährbetrieb zu beobachten, weil es eben nur mehr die Triebwagen gibt.
Wenn ich da an die Bundesbahnzeiten denke, wo zB nachts der D 233 aus Paris mit 12 Wagen auf die Fähre rangiert werden mußte..! Überdies blieben meist noch zwei bis drei Wagen in Puttgarden zurück...
Einer der zugbildungsmäßig schwierigsten Züge der DB, aber umso interessanter, neben Puttgarden mit umfangreichen, und wegen der Örtlichkeit schwierigen Rangiermanövern in Aachen Hbf...
BG, Tom
makna 11/01/2016 10:13
Hervorragende Perspektive auf den ICE-TD beim "Ausschiffen" !!!Und wieder eine thematische Top-Zusammenstellung !!!
BG Manfred