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Lest und versucht das zu versehen...

Lest und versucht das zu versehen...

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Stefan Schwetje


Premium (World), Braunschweig

Lest und versucht das zu versehen...

„Geburt im KZ“
Unter dieser Überschrift veröffentlichte die in Dresden erscheinende Regionalzeitung „Die Union“ am 29. September 1946 einen Bericht aus Auschwitz-Birkenau. Der Beitrag ist mit den Initialien O.R. unterzeichnet, in dem es heißt:
„Birkenau, das Konzentrationslager, wo Schmutz, Ungeziefer und Seuchen einander die Waage halten. Dunkel und voll Schlamm sind die Pferdebaracken, in denen wir wohnen und leben. Leben - ? Es ist Nacht. Wer um diese Zeit durch das Lager geht, hört das verzweifelte Weinen und Stöhnen der Frauen, die zu zehn und zwölf in den Kojen aufgestapelt sind, aufgestapelt im wahren Sinne des Wortes, denn zum Nebeneinanderliegen reicht der Platz nicht aus.
Gib acht, wenn Du gehst, wohin du deinen Fuß setzt, damit du nicht auf die Leichen fällst, die rings um die Blocks in Massen auf der Erde liegen. Störe sie nicht, lass sie schlafen – ihr Kampf ist zu Ende.
Komme mit mir in den Krankenbau, ich werde dir ein Bild zeigen, das Du nie mehr vergessen wirst. Halte die Tür fest, damit der Wind sie Dir nicht aus der Hand reißt. Und wundere Dich nicht. Du darfst Dich hier über nichts wundern.
Da liegt eine Frau auf der Erde. Sie hat die Zähne fest aufeinander gebissen. Ihre Hände suchen Halt im Schlamm, den man hier Fußboden nennt. Dicht daneben siehst Du eine Pflegerin, die Zeitungspapier in der Hand hält und ein Stück nach dem anderen anzündet. Warum tut sie das, will sie die Baracke in Brand setzen ? Nein, sie leuchtet nur. Denn hier wird ein Kind geboren, und mehr Licht haben wir nicht.
Du musst dir alles genau anschauen, und Du wirst sehen, dass die Frau ohne Decke und ohne Laken im Schmutz der Erde liegt, sehen, dass kein Becken mit Wasser daneben steht, denn Wasser haben wir nur, wenn es regnet. Du darfst nicht vergessen, die junge Ärztin anzuschauen, die neben der Frau kniet und ihr hilft.
Hast Du schon einmal soviel Verzweiflung in einem jungen Gesicht gesehen ? Sie trägt keinen weißen Mantel, ihre Hände stecken nicht in sterilen Gummihandschuhen, aber dafür hat sie den Kopf kahl geschoren, und ihr Gesicht ist nicht nur in dieser Nacht so bleich und verzweifelt. – „Ich kann keine kleinen Kinder mehr sehen“, hat sie mir gestern gesagt. Verstehst Du nun warum ?
Und nun gib acht, das Kindchen will gleich da sein. Die Frau auf der Erde gräbt ihre Hände noch tiefer in den Schmutz, sie schreit – schreit. Die Ärztin kniet vor ihr, arbeitet schnell und geschickt mit ihren jungen, mageren Händen. Noch ein letzter Schrei, ein letztes Aufbäumen, und das Kindchen ist da. Erschöpft sinkt die Mutter zurück und schließt die Augen…, sie weint. Schau Dich um und vergiss es nicht. Sie weinen alle, alle, die hier herumstehen.
Kleines, süßes Kind, du kommst nun nicht in eine Wanne mit warmen Wasser. Du wirst nicht in zarte, weiße Windeln gelegt. Du wirst mit Zellstoff abgerieben und in einen Fetzen gewickelt.
Wir lieben Dich, kleines Wesen. Du wanderst von Arm zu Arm, und wir küssen deine kleinen Füße, die eben aus warmer Hülle in Not und Elend gesprungen sind, und das, was du heiß auf Deinem Gesicht fühlst, ist nicht die Sonne. Es sind Tränen, heiße, bittere Tränen, die wir weinen um Dich und vor Zorn über eine Menschheit, die solches geschehen lässt“.

In den Baracken herrschten unvorstellbare Bedingungen. Selbst im Winter wurden sie fast nie beheizt. Die Kälte durchdrang alles. An der Decke hingen Eiszapfen. Infektionskrankheiten, Gestank und alle Arten von Ungeziefer waren an der Tagesordnung.

Stanislawa Leszczynska Häftlingsnummer 97143:
„Die an den Leichen gemästeten Ratten waren von der Größe einer Katze. Sie hatten keine Angst vor den Menschen, und mit Stöcken vertrieben, versteckten sie oft nur ihre Köpfe, krallten sich an den Pritschen fest und gingen dann zum Angriff über; der abscheuliche Körpergeruch der schwerkranken Frauen, die nicht gewaschen werden konnten und für die wir keine frische Kleidung hatten, lockte die Ratten besonders an“.

Die durch Hunger, Kälte und Krankheiten ausgemergelten Mütter konnten trotz aller Aufmerksamkeit nicht verhindern, dass ihre Babys von Ratten gebissen oder angefressen wurden. Sogar die entkräfteten Frauen, die sich weder waschen noch frische Kleidung nach der Geburt bekommen hatten, wurden von den Ratten bei Tag und Nacht attackiert: Ihnen wurden die Finger, Fersen, Nasen oder Ohren abgefressen.

Neben den Entbindungen im Frauenlager kamen unter anderem auch im „Theresienstädter Familienlager“ Kinder auf die Welt. Diese wurden zunächst am Leben gelassen. Als dieser Lagerabschnitt liquidiert wurde, sind alle in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet worden.
Im später auch „aufgelösten“ Zigeunerlager wurden die Neugeborenen – im Gegensatz zur Praxis im Theresienstädter Familienlager – alle erfasst. In dem bis heute erhalten gebliebenen Hauptbuch des Zigeunerlagers sind insgesamt 387 Geburten festgehalten worden.
Weder für die Mütter noch für die Neugeborenen gab es Medikamente. Nicht einmal Windeln waren vorhanden.

Elisabeth Guttenberger:
„Zuerst starben die Kinder im Zigeunerlager. Tag und Nacht weinten sie nach Brot; bald waren alle verhungert. Auch die Kinder die dort zur Welt gekommen sind haben nie lange gelebt. Das einzige worum sich die SS kümmerte war die ordnungsgemäße Tätowierung. Die meisten starben wenige Tage – höchsten zwei Wochen nach der Geburt. Es gab keine Pflege, keine Milch, kein warmes Wasser, geschweige denn Puder oder Windeln.

Hermann Langbein sah das Zigeunerlager mit eigenen Augen und berichtete über die Mütter und ihre hier geborenen Babys: „In der Nachbaracke liegen die Frauen und Kinder. Da liegen auf dem Strohsack sechs Babys, sie können erst ein paar Tage alt sein. Wie schauen sie aus ! Dürre Glieder und einen aufgeriebenen Bauch. Auf den Pritschen nebenan liegen die Mütter, ausgezehrt, brennende Augen… . An der Rückwand der Baracke ist ein Holzverschlag angebaut, es ist die Leichenkammer. Ich habe schon viele Leichen im KZ gesehen. Hier schrecke ich zurück. Ein Berg von Leichen, gut zwei Meter hoch. Fast lauter Kinder, Babys, Halbwüchsige, darüber huschen Ratten“ .

(Quelle: "Vergiss deinen Namen nicht" - Die Kinder von Auschwitz. Alwin Meyer)

Comentarios 5

  • Urs V58 02/08/2016 22:17

    Der Text macht sprachlos ... und es gibt noch immer Leute, welche die Augen verschliessen!
    Danke, dass du ihn mit uns teilst.
    LG Urs
  • Brigitte Specht 02/08/2016 17:16

    ....wieder sehr ausdrucksstark und Eindruck hinterlassend von Dir gezeigt!
    L.G.Brigitte
  • Joachim Irelandeddie 02/08/2016 16:19

    Ein erschütternder Bericht den du hier niedergeschrieben hast und ich kannn immer noch nicht glauben das es solche Menschen gegeben hat und immer noch gibt! Die Erinnerung an diese grausame Zeit müssen wir aufrecht erhalten und dafür sorgen, dass solch grausame Taten nie wieder aufkommen dürfen! Ein sehr gut geeignete Aufnahme zu diesem grausamen und Menschenverachteten Bericht! Ich danke dir für die Mühe die du dir bei diesem Thema machst!

    lg eddie
  • Stefan Schwetje 02/08/2016 15:31

    @ oggilebon
    Das Rot war bewusst gewählt, denn heutzutage muss man sich in der "neuen" FC schon was einfallen lassen, damit dein Foto überhaupt jemand anklickt...
  • oggilebon 02/08/2016 14:25

    Harter Tobak zur Mittagszeit ! Da muss man erst mal schlucken und durchatmen...
    Dein Foto unterstreicht den bedrückenden Text sehr treffend.
    Lediglich das knallige Rot der Schrift will irgendwie nicht ganz dazu passen.

    LG Robert

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