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Mittwochsleiche 15: Emmerl

Mittwochsleiche 15: Emmerl

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RinaldoG


Premium (World), Immenstadt

Mittwochsleiche 15: Emmerl

Emmerl, gestorben vor 100 Jahren fünfjährig an Diphtherie. Ein Großcousin hat um das Foto gebeten; seine Mutter habe oft von diesem Schwesterchen erzählt.
Und auch meiner Großmutter ging die Schwester ihr Leben lang nicht aus dem Kopf.

Vor Jahren habe ich dazu eine (wahre) Geschichte geschrieben:

DER CHEF

Es war Mitte November.
Eine warme Südwestströmung bescherte uns eine Zweitauflage des Altweibersommers. Ich hatte mich dementsprechend angezogen, trug eine helle, fast weiße Hose und über dem Hemd eine weiße Windjacke. So ging ich unter herbstlichen Kastanien ins Krankenhaus, wo meine Großmutter im Sterben lag.
Sie war fast nicht mehr wiederzuerkennen, so klein und zusammengeschrumpft war sie. Sie lag mit geschlossenen Augen.
Ich betrachtete sie eine Weile, dann berührte ich sie am Arm.
Sie machte die Augen auf. Ich bemerkte in ihnen wie ein leichtes Glimmen. Sie schob sich mühsam ein wenig hoch.

Sie fragte mich, ob ich wohl vergessen hätte, mich um sie zu kümmern, warum ich bei der letzten Visite nicht dabeigewesen sei, ob ich wohl wichtigere Patienten gehabt hätte, und: "Können Sie sich das eigentlich erlauben, als Chefarzt?" Und um ihren eingefallenen Mund spielte wie ein spöttisches Lächeln.
Ich hatte ihr etwas erstaunt zugehört. Nun sprach ich sie an.
"Ach", sagte sie, "du bist's, Reinhard." Sie legte sich ins Kissen zurück. "Ich hab' gedacht, es wär' der Chef."
Dann machte sie die Augen wieder zu.
Sie war so klein und zusammengeschrumpft, der zahnlose Mund halb geöffnet, die spärlichen Haare verklebt. In ihren Händen arbeitete es, als wollten sie etwas begreifen.

Beim Rückweg zum Auto, unter den herbstlichen Kastanien, fiel mir ein, wie sie mir noch vor wenigen Wochen ein kleines Kästchen gezeigt hatte. Es sah aus wie ein Schrein.
Auf ein winziges Kissen war gebettet die vergilbte Fotografie eines etwa vierjährigen, schlafenden Mädchens.
Meine Großmutter nahm die Fotografie heraus und fragte mich, ob ich sähe, was das Mädchen für schöne, lange, schwarze Haare habe.
Ich antwortete nicht.
- Sie habe nie so schöne Haare gehabt.
Ihr Vater habe einmal zu ihr, der um drei Jahre älteren Schwester, als sie gemeinsam das Totenbild ansahen, gesagt: "Jaja, die Schöne ist gestorben."
Dann legte sie die kleine Schwester in den Schrein zurück und machte den Deckel zu.

Zwei Tage später war sie tot.

Comentarios 7

  • FrankFrankfurter 15/11/2016 12:57

    Da ist man erst einmal sprachlos......versinkt in Gedanken, ist letztlich froh ob des Andenkens. Dann fragt man unweigerlich, wer wird an mich denken? Eine Geschichte von und über den Tod - und doch mitten aus dem Leben!
  • RinaldoG 07/11/2016 17:30

    @ Anne Louise: Ich finde dieses Fazit zum Lebensende auch sehr traurig. Rinaldo
  • † Anne Louise Schneider 04/11/2016 8:17

    diese Geschichte, dieses Bild
    ich möchte weinen...
    Grüße von Anne
  • RinaldoG 29/10/2016 22:18

    @Pixelknypser und Cameraqueen: Danke, Sabine, danke, Ingo, dass ihr die zugehörige Geschichte gelesen habt. Erst damit bekommt das Foto seinen eigentlichen Sinn. - Herzlichen Gruß, Rinaldo
  • Pixelknypser 29/10/2016 16:33

    ehrlich gesagt habe ich Gänsehaut bekommen als ich das gelesen habe und ich kann dir versichern das kommt nicht oft vor.VG Ingo
  • Cameraqueen 26/10/2016 12:42

    Ein Bild das unter die Haut geht und eine berührende Geschichte. Mir scheint es als ob die alten Menschen langsam verblassen, bis sie nur noch ein Schatten sind und dann ganz verschwinden.
    lg, Sabine
  • † usosnowski 26/10/2016 6:29

    Meine Großmutter (JG 1897) hatte 13 Geschwister, von denen 4 als Kleinkinder starben. Die anderen wurden alle über 70. Heute kann man sich das kaum vorstellen.
    mfG Ulrich

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