7.485 68

Nationalgalerie

Berlin, Deutsche Nationalgalerie

https://www.youtube.com/watch?v=FT9Qy4gy4Ro

Moderne Zeiten
Moderne Zeiten
E. W. R.


Vaterland
Vaterland
E. W. R.

Endzeit
Endzeit
E. W. R.

Frosch-Perspektive
Frosch-Perspektive
E. W. R.

Kredit
Kredit
E. W. R.

Überlegen
Überlegen
E. W. R.


Balance (2)
Balance (2)
E. W. R.




"Wahnfrei auf sich selber stehen können"

Erinnerung an den Philosophen Karl Löwith

Von Astrid Nettling

Am 26. Mai 1973 starb der Geschichtsphilosoph Karl Löwith. Der Heidegger-Schüler musste 1934 wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland verlassen. 1952 kehrte er nach Heidelberg zurück, wo er bis zu seinem Tode lehrte. Es ist hohe Zeit, an den in Vergessenheit geratenen Kritiker neuzeitlichen Metaphysik zu erinnern.

"Was immer er tat, und vor allem auch unterließ, hat seinen Grund in der Erkenntnis, dass es nicht die Aufgabe der 'Intellektuellen' (das heißt wörtlich der Einsichtigen) sein kann, sich selber leichtfertig preiszugeben. Was er von ihnen und sich selber verlangte, war: inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren, um im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können."

Es könnte ein Selbstporträt sein - dieses Charakterbild, das Karl Löwith in seiner Burckhardt-Monografie von dem Schweizer Kulturhistoriker gezeichnet hat. Das Buch ist 1934 während seines zweijährigen Aufenthalts in Rom entstanden, wo der 39-jährige Privatdozent aus Marburg vor den politischen Verhältnissen in Deutschland Zuflucht gefunden hatte. "Inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren", das hat auch Löwith stets von sich selber verlangt, hatte er doch am eigenen Leib erfahren müssen, wie wichtig es ist,

"im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können".

Seine letzte Vorlesung an der Marburger Universität hatte der dort nur noch geduldete Nichtarier deshalb mit dem Wunsch geschlossen, man möge bei ihm gelernt haben,

"dass man nicht notwendig 'arisch' sein müsse, um mit Anstand dozieren zu können, und dass es nicht darauf ankomme, was einer sei, sondern wer einer sei."

Dies berichtet Löwith in seinem autobiografischen Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, als er bereits an der kaiserlichen Universität im japanischen Sendai lehrt, wohin er durch Vermittlung von Schülern und Freunden gelangt war, nachdem ihn 1936 die italienischen Rassengesetze auch aus Rom vertrieben hatten. Erfahrungen, aus denen Löwith die Lehre gezogen hat, dass vor allem eines not tut - Distanz. Denn "inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren", heißt für den durch Weltanschauungswahn und politischen Wahnsinn durch die Umtriebe seiner Zeit Getriebenen, inmitten dieser alles erschütternden Zeitläufe den Standpunkt geistiger Distanz gegenüber dem zu wahren, was man die Geschichte nennt.

"Wenn uns die Zeitgeschichte irgend etwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren kann. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte."

Deshalb bedarf es eines Standpunkts der Distanz gegenüber diesem grund- und bodenlosen Geschehen, der Distanz zugleich gegenüber einer Tradition, die, wie Löwith schreibt,

"die Geschichte zu jener absoluten Relevanz erhoben hat, die wir nun als etwas Selbstverständliches hinnehmen, obwohl sie das Allerfragwürdigste ist",

braucht es Distanz gegenüber dem, was er schärfer die "Auslieferung an das geschichtliche Denken" nennt. Dies in einer Epoche, in der nicht bloß die Hegelsche Gewissheit, dass "Vernunft in der Weltgeschichte ist", sondern ebenso die moderne Zuversicht längst Schiffbruch erlitten hatte, dass der "seine Geschichte selbst machende Mensch", wie es bei Karl Marx heißt, über einen dafür geeigneten Kompass und einen ihm günstigen Wind verfügt, um inmitten des stürmischen Wellengangs der Geschichte den richtigen Kurs auf das glückliche Ende seiner Fahrt halten zu können.

[...]

So wie es in dem berühmten Bild des Sturzes dargestellt ist, das Pieter Breughel gemalt und W.H. Auden in einem Gedicht beschrieben hat, im Bild vom Sturz des Ikarus, wo "alles sich vom Unheil müßig abwendet", wie es bei Auden heißt. Nicht zufällig hat auch Löwith dieses Bild des Sturzes in seinem Aufsatz Vom Sinn der Geschichte aufgegriffen:

"'Weltgeschichte' ist wörtlich genommen ein Missbegriff, denn weltumspannend oder universal ist nur die eine von Natur aus bestehende Welt, innerhalb derer unsere geschichtliche Menschenwelt etwas Vorübergehendes ist. Sie verschwindet im Ganzen der Welt etwa so, wie auf einem Bilde von Breughel Ikarus, der nach seinem Sturz vom Himmel im Meer versinkt und von dem nur noch ein Bein sichtbar ist. Am Horizont des Meeres sieht man die Sonne, während am Ufer ein Fischer hockt und am Land ein Hirte seine Herde hütet und ein Bauer die Erde pflügt, als sei zwischen Himmel und Erde gar nichts geschehen."

[...]

"Weltgeschichte ist wörtlich genommen ein Missbegriff […] Die Weltgeschichte steht und fällt mit dem Menschen - die Welt selbst kann auch ohne uns sein; sie ist übermenschlich und absolut selbständig."

[...]

Von Hans-Georg Gadamer gibt es ein einprägsames Porträt von Löwith, das er in seinen Lebenserinnerungen festgehalten hat. Darin spricht er von einem "unfasslichen Gleichmut", der ihn zu beseelen schien. Ein Gleichmut, gepaart mit einer "ihm eingeborenen Distanz", die er stets einzuhalten gewusst habe - eine Distanz zu sich selber, zu den Menschen, zur Welt. "Das war sein Ethos", schreibt Gadamer, "ein illusionsloses Hinnehmen der Dinge, wie sie sind, ein Anerkennen der Natürlichkeit des Natürlichen, aber auch ein beharrliches Festhalten an allem, was ihm je nahe war."

[...]

Denn, so schreibt Löwith:

"Wer sagt uns, dass die Welt auf den Menschen und seine Geschichte hin angelegt ist und nicht auch ohne uns sein könnte, nicht aber der Mensch ohne Welt, in der er und durch die er überhaupt da ist."

[...]

Auf einem solchen Sinn für die "Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens" sowie auf der nüchternen und klaren Einsicht in das, so Löwith, "was dem sterblichen Menschen gemäß ist zu wissen und worein er sich zu ergeben hat, um nicht sein Leben und Denken auf bloße Wünschbarkeiten zu stellen", aber beruht für ihn das "Geheimnis der Mäßigkeit". Es ist zugleich das Geheimnis eines Gleichmuts, der seine Geduld und Nachsicht, seine Skepsis und die Resignation kluger Bescheidung den maßlosen Denk- und Handlungsansprüchen des neuzeitlichen wie des modernen Menschen entgegenstellt.

[...]

Ein solcher Mensch aber erblickt keine weltgeschichtliche Vernunft wie Hegel, keine Dialektik geschichtlichen Fortschritts wie Marx, sondern gewahrt sich selbst als den immer schon Handelnden wie Duldenden, der sich seiner eigenen Begrenztheit und Endlichkeit gewachsen zeigt. Auf dieses Maßgebliche wieder hinsehen zu lernen aber liegt bis heute die noch unaufgegriffene Herausforderung Löwithschen Denkens.

[...]


dradio.de
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/2118931/


ESSAY UND DISKURS
26.05.2013


© 2013 Deutschlandradio

Comentarios 68

  • Maud Morell 26/10/2021 13:00

    Sehr schön dein fotografierter Moment, die interessierten Besucher
    der Ausstellung.
    LG von Maud
    • E. W. R. 26/10/2021 15:24

      Da waren prismatische Wände aufgestellt, durch die hindurch man fotografieren konnte, so dass es ein wenig "feiningerisch" wurde.
  • E. W. R. 10/09/2015 9:31

    Vielleicht sollte man immer ein kleines Prisma mitführen, denn darauf vertrauen, dass der Künstler selbst so etwas aufstellt, kann man nicht.
  • E. W. R. 03/06/2015 22:23

    Die Prismen stammen vom Künstler selbst, liebe Kirsten. Für die digitale Bearbeitung habe ich bislang keine Feiningerfilter entdeckt.
  • Kirsten G. 02/06/2015 23:33

    Mir gefällt das Spiel mit der Bewegungsunschärfe und den Spieglungen....Solche Aufnahmen sind sehr gut möglich in Museen, du hast es für dich genutzt, diese Effekte perfekt und sehr gut umzusetzen.
    Lg
    Kirsten
  • E. W. R. 23/06/2014 18:39

    Dabei fast die Wirklichkeit.
  • Bernadette O. 22/06/2014 22:57

    Das ist gut!
  • E. W. R. 28/05/2014 23:41

    Dass der Künstler nun auch prismatische Elemente aufgestellt hatte, war fotografisch ein großer Glücksfall, denn die Gemälde als solche waren erstens zum größten Teil unscharf gemalt und alsbald auch von den massenhaft erschienenen Interessierten verdeckt.
  • E. W. R. 28/01/2014 19:47

    Lieber Markus, die Unschärfe kommt durch eine Prismawand, ein Werk Gerhard Richters, zustande, durch die die Besucher fotografiert wurden.
  • Markus Novak 28/01/2014 19:23

    ein wunderbares Spiel mit der Bewegungsunschärfe und statischer Ruhe
    LG markus
  • E. W. R. 29/11/2013 8:35

    Liebe Antigone, die Neue Nationalgalerie ist bereits aufgrund ihres Namens eine Einrichtung, von der man in besonderer Weise erwartet, dass sie Ausstellungen präsentiert, die einen Bezug auf die Kultur unseres Landes haben. Diese Erwartung wird auch vielfach eingelöst, und gewiss befindet sich in den Sammlungen Vieles, was die Naziverbrecher als "entartet" bezeichneten. Was die Bestände des alten Herrn aus München angeht, ist da Manches bislang rechtlich höchst suspekt, nicht zuletzt das Verhalten der zuständigen Staatsanwaltschaft, das letztens von einem Kenner des Rechts als "halbdebil" klassifiziert wurde, wenn ich mich nicht irre. Für die Kunstwelt ist es erst einmal gut, dass diese Bilder den Terror überlebt haben.
  • Antigone44 25/11/2013 22:59

    Die Welt der Kunst befindet sich in Aufruhr,denn ein Thema (eines von vielen) wurde bisher immer schön unter den Teppich gekehrt und nun durch einen alten Herrn aus München plötzlich hoch aktuell.Insofern ist dieses Photo von enormer Brisanz.
    LG Antigone
  • E. W. R. 06/07/2013 19:53

    @ Kerstin (Besprechung): Liebe Kerstin, ob das stimmt, dass man aus den Aufständen gegen die Diktaturen des Ostblocks dergestalt gelernt hat, dass man jedenfalls von seiten der Demonstranten keine Gewalt anwandte, weiß ich nicht. Aus meiner Sicht ist entscheidend, dass sich die UdSSR als Hegemonialmacht des Ostblocks selbst so weit geändert hatte, dass nicht sogleich durch den Einsatz von Panzern auf das Aufbegehren des Volkes reagiert wurde. Aber selbstverständlich habe auch ich nur ein medial vermitteltes Bild der Dinge, das um so naiver ausfallen dürfte, je weiter die Ereignisse in meine Kindheit oder Vor-Kindheit zurückreichen.

    Dass dann das Bild des „Vaterlandes“ und das Bild „Europas“ um so weniger konsistent sein kann, je facettenreicher die Wirklichkeit ist, die man mit diesen beiden Begriffen erfassen will, ist sehr verständlich. Der Einzelne kann schon kaum wissen, was alles sein eigenes Land und dessen Geschichte ausmacht, und bei einer Entität wie Europa ist das ganz unmöglich.

    Dahinter steckt aber eigentlich etwas Gutes, nämlich ein buntes Leben in aller Verschiedenheit, das sich der Subsummierung unter einige wenige Begriffe geradezu entzieht. Nicht alle verstehen es, die Buntheit der Realität zu würdigen, was ich jetzt auch wieder im kleineren beruflichen Rahmen erfuhr.

    Dass in Gemeinschaften wie einer Nation oder einer Staatengemeinschaft auch immer der Teufel im Detail steckt, erfahren wir ja jetzt angesichts der vielbesprochenen Affäre, die um jene herzige Vokabel kreist, für die ich beinahe ein Bild eingestellt hätte.

    Neuland
    Neuland
    E. W. R.


    Eigentlich ist aber der ganze Kontext ziemlich naiv behandelt worden, denn diese subkutane Art, wie Staaten miteinander umgehen, gehört dazu, seitdem es solche gibt. Und eigentlich stellt er sogar eine vertrauensbildende Maßnahme dar, was vor allem die Geschichte des kalten Krieges belegt.

    Was Löwith betrifft, verstehe ich ihn so, dass man nicht daran verzweifeln soll, dass man „die Welt nicht retten“ konnte, wenn man nur das getan hat, was man bei einiger Rücksichtnahme auf die eigene Person tun konnte. Man muss also kein Held sein; ein tröstlicher Gedanke, zumal einem das Leben nur einmal geschenkt wird. Nicht jeder ist ein absoluter Ausnahmemensch wie etwa diejenigen, die Sabine Friedrich in „Wer wir sind“ darstellt. Das bewahrt ja auch vor blindem Extremismus, wie er sich jetzt wieder verstärkt in gewissen Staaten austobt.
  • E. W. R. 06/07/2013 17:43

    Lieber Adrian, natürlich hast Du recht, dass ein Bild immer für sich betrachtet werden muss. Und es ist auch zutreffend, dass mein Bild hier mit diesem Titel alles "ausstellt", die Bilder wie die Menschen. Das war ja auch bereits bei einem weniger spektakulären Ensemble der Fall.

    Ansichten von Tieren und Menschen
    Ansichten von Tieren und Menschen
    E. W. R.


    Was dein Bild betrifft, wäre ein kleiner Hinweis auf die Bildabsicht gewiss angebracht. Falls es wirklich einen mittelalterlichen Ritter im Topfhelm darstellt, ließe sich dazu gewiss sagen, dass uns Einstellungen, wie sie diese Leute besaßen, heute fremd geworden sind. Aber die Ritterzeit ist ja auch Jahrhunderte her. Also: Weltanschauungen haben eine relative Konstanz, bei der es nicht um heute und morgen geht.
  • E. W. R. 05/07/2013 15:07

    Lieber Adrian, in den letzten Tagen war ich abgelenkt. Ich sehe mir das Ganze noch genauer an.
  • Adrian K 05/07/2013 11:52

    Lieber Eckhard, das führt zwangsläufig zu Missverständnissen, wenn man woanders kommentiert, was woanders etwas anderes bedeutet.
    Bei mir wirken die Besucher der Nationalgalerie (natürlich bei allen Respekt für die Kuntsinteressierten Menschen in der Nationalgalerie) selbst wie Exponate im Glaskasten und bei einem Betrachter deines Bildes (zB.mir) können/müssen/dürfen Reflexionen, die die wuselig wirkende Menschenmenge selbstversändlich hat (siehe Bildensemble unter dem Hauptbild), auch Reflexionen hervorrufen.
    Adrian
    Übrigens, jetzt soll mir einer mit dem Spruch kommen: "..visual language, the only language that can be understood anywhere in the world"...

Información

Sección
Vistas 7.485
Publicada
idioma
Licencia

Exif

Cámara Canon PowerShot SX40 HS
Objetivo ---
Diafragma 4
Tiempo de exposición 1/50
Distancia focal 11.2 mm
ISO 500

Le ha gustado a