The Last...
Mit den Worten von Elie Wiesel (1944-1945 Häftling in Auschwitz-Birkenau, sowie Friedensnobelpreisträger 1986) möchte ich vorerst meine Auschwitz-Serie beenden.
Wiederbegegnung mit Auschwitz
Die Stille. Die Stille von Birkenau ist wie keine andere. Sie birgt in sich die Entsetzensschreie, die erdrosselten Gebete von tausenden und abertausenden Gemeinden, ausgerottet durch den Feind, von ihm verurteilt, in der Dunkelheit einer endlosen, einer namenlosen Nacht verschlungen zu werden. Menschliches Schweigen, eingefroren im Herzen der Unmenschlichkeit. Todesstille im Herzen des Todes. Es dringt ein ins Gewissen, ohne es zu durchdringen. Es lädt dort ein Geheimnis ab, das keine Kraft je durchbohren kann. Ewiges Schweigen unter einem mattblauen Himmel.
Zurückgekehrt nach Birkenau, Ewigkeiten, nachdem ich es verlassen habe, entsteht mir der unwirkliche Eindruck, dort dem Jungen begegnet zu sein, der ich einmal war. Außer, dass jetzt alles ganz ruhig, fast friedlich erscheint. Ich schließe die Augen: die Tiefen der Zeit bringen sinnestäuschende Bilder hervor. Unzählige Menschen, alle ohne Gesicht, laufen durch all meine Sinne. Im Reich der Schatten, das Auschwitz ist, geht niemand langsam. Der Tod selbst wirft sich seiner Beute entgegen. Er hatte keine Zeit, der Tod. Er muß überall gleichzeitig sein. Das Leben, der Tod: alles verbindet sich in rasender Schnelligkeit. Die Zukunft beschränkt sich hier auf den Augenblick, der der Selektion vorausgeht. Der Gegenwart muß man hier nachlaufen, damit sie nicht gänzlich verschwindet. Man rennt zum Waschen. Man rennt, während man sich anzieht. Man rennt bei der Brot-, bei der Magerine-, bei der Suppenzuteilung. Man rennt zum Appell, man rennt zur Arbeit, man rennt von einem Block zum anderen, von einem Zelt zum anderen, auf der Suche nach einem vertrauten Blick, auf der Suche nach einem tröstenden Wort.
An das Anschlagen der Hunde erinnere ich mich mit einer an Schmerz grenzenden Schärfe. Das Geheul der Schlächter. Der Lärm der Gummiknüppel, die auf die Nacken der Gefangenen niederschlagen. Der Schmerz macht die verhungernden, schwachen Menschen stumm, ihre Demütigung, so schwer wie ein Fluch. Daran werde ich mich immer erinnern.
Wie friedlich im Augenblick alles erscheint. Ein sonniger Augusttag. Ein frischer Wind lässt die grau-blauen Wolken über uns in der Ferne schwirren. Damals war es Mitte Mai. Es war kalt. Vom Wagen springend zog sich ein Mädchen den Mantel an. „Knöpf ihn zu“, sagte ihr die Mutter. Wie immer ganz gehorsam knöpfte sie ihn zu. Ich begleite sie mit meinem Blick. Ich habe sie nie aus den Augen verloren. Ich sehe sie immer, ich sehe sie noch, wie sie sich mit der Menge entfernt, kleines Mädchen mit dem von Reinheit und Schönheit überfließenden Lächeln, kleines jüdisches Mädchen mit Goldhaar und unschuldigem Traumgesicht, blitzendes Licht auf dem untergehendem Schiff: es genügt, die Augenlieder zu senken, damit die Zeit euch wieder zurückbringt. Da, nichts hat sich geändert. Es gibt eine Ebene der Existenz, auf der sich niemals irgend etwas ändert.
Birkenau: ich war mir nicht mehr darüber im klaren, daß das Lager so relativ klein war; vielleicht liegt es an den berühmten „schwarzen Loch“, von dem die Weisen sprechen. Er hat ein ganzes Volk, mitsamt seinen Fürsten und Bettlern, seinen Greisen und Kindern, ein Volk mit seinen Hoffnungen und seinen Erinnerungen verschluckt.
Vo den beiden, Birkenau und Auschwitz, bringt Birkenau die Erinnerung mehr zum Klingen. Auschwitz gleicht so sehr einem wohlgepflegten, gut erhaltenen Museum. Allerdings übersteigt die Wirklichkeit von Auschwitz alles, was ein Museum anbieten und enthalten könnte. Birkenau heute ist ein wenig wie Birkenau damals. Es genügt, sich zur Erde zu beugen, um dort die Asche zu finden, die seinerzeit vom Himmel fiel und die armen Reste von Tausenden und Tausenden jüdischer Kinder, schweigend und weise, so weise, in die vier Winde zerstreute.
Mit einigen Gefährten und Freunden durchwandern wir das Lager. Ein Führer hält es für nötig, uns Erklärungen und Kommentare zu geben. Nur aus Höflichkeit hören wir hin. Da, die Rampe. Schienen, die diesen Ort mit allen jüdischen Zentren des Kontinents verbunden haben. Schienen, die auf dem ungeheuren Altar zusammenlaufen, dessen Flamme den Himmelsthron berühren, ihn berühren müssen. Am Abend unserer Ankunft konnten wir die Bedeutung der Rampe nicht begreifen. Benommen, glaubten wir nur, in einem Alptraum gestürzt zu sein. Das ist sie also, die Rampe. Der Kreuzweg. Mengele. Eine Bewegung des Stabes zeigte den Todesweg. Bei Tagesabbruch war von unserem Konvoi nicht mehr viel übrig.
Ich habe über diesen Gipfelpunkt des Bösen alles gelesen. Ich glaube, alles über die letzten Stunden der Opfer zu wissen. Ich werde nichts sagen. Es sich vorzustellen, wäre taktlos. Es zu erzählen, wäre schamlos. Auf dem Marsch zu dem Ort, wo die Schlächter ihre Gaskammern gebaut hatten, ihre Krematorien, galt es die Zähne zusammenzubeißen. Und jeden Wunsch zu heulen, zu schreien, zu weinen galt es zu unterdrücken. In einem bestimmten Moment, in dem wir in der Vorkammer des Todes waren, verspürten wir Ehemaligen von Auschwitz das Bedürfnis, uns die Arme zu reichen. Das Bedürfnis, einander zu stützen. Während einer unendlichen Zeitspanne hielten wir Stille. Dann, ganz leise zuerst, schließlich immer lauter schreiend, begannen wir wie verrückte das ewige Gebet der Juden zu sprechen: „Schema Israel“ – „höre Israel, Gott ist unser Gott, Gott ist einer“ – einmal, zweimal, fünfmal… Taten wir dies, weil damals die Opfer, die spürten, daß das Ende nah war, begannen, dasselbe Gebet zu sprechen ? Und weil wir so unsere rückwirkende Solidarität mit ihnen manifestieren wollten ? Weil am Ende, an der Todesschwelle, alle Worte zu Gebeten werden, und alle Gebete zu dem einen verschmelzen ?
In dem offenen Zug, der uns später, im Januar 1945, von Auschwitz nach Buchenwald brachte, begannen wir, aufgerieben von einem wilden Schneesturm, mit unseren letzten Kräften dasselbe Gebet zu schreien. Mit unserem letzten Atemzug wollten wir einer unwürdigen Welt unseren Glauben an Gott kundtun, jawohl, trotz Auschwitz: Gott ist einzig; trotz der Schlächter: Gott ist unser Gott; trotz Buchenwald: Gott ist einer.
Wieder umgibt uns eine Stille, schwer von Endgültigkeit. Sie gleicht jener, die der Offenbarung am Sinai vorausging. Der Talmud gibt uns eine bewegende poetische Beschreibung: die Stille war so, daß die Tiere aufhörten zu blöken, die Hunde zu bellen, der Wind zu wehen, das Meer sich zu bewegen, die Vögel zu singen… Das ganze Universum hielt den Atem an in Erwartung des göttlichen Wortes…
Das ist es, was wir angesichts Birkenau tun müssen: den Atem anhalten und warten, gemeinsam, um ein ganz klein bißchen die gebieterische Stimme dieser Zeit zu vernehmen, diejenige einer Erinnerung,
WELCHE BRENNT UND BRENNT, ABER SICH NIEMALS VERZEHRT !!!!
Vielen Dank an alle die meine Auschwitz-Bilder betrachtet, Kommentiert, Gelobt und Favorisiert haben !
Ich hoffe ich bin euch nicht als Moralapostel auf den Wecker gegangen ???
Brigitte Specht 29/01/2017 21:42
....einfach grossartig von Dir gezeigt und beschrieben!Danke dafür!
L.G.Brigitte
Frank G. P. Selbmann 29/01/2017 12:07
lieber stefan. ich möchte mich bei dir noch einmal ausdrücklich bedanken. du hast uns dieses dunkle kapitel deutscher geschichte in ausgezeichneter weise, fotografisch und mit den ausgewählten texten, vor augen geführt. damit hast du mit sicherheit einen beitrag gegen das vergessen geleistet.liebe grüße franKS
Nebelhexe 20/01/2017 22:59
Eine sehr gelungene und bewegende Serie hast Du hier wieder eingestellt. Wie immer habe ich sie seh interessiert verfolgt.LG
Karin.M 20/01/2017 21:02
Ein perfekter Abschluß Deiner Serie! Ich möchte mich bei Dir ebenfalls bedanken,sich damit auseinanderzusetzen ist nicht so einfach,das hast Du grossartig gemeistert!LG Karin
Mary.D. 20/01/2017 17:29
Besser kann man diese Stätte des Todes nicht dokumentieren...das hast du klasse gemacht!LG Mary
Joachim Irelandeddie 20/01/2017 14:59
Eine bedrückende Serie die du uns hier gezeigt hast! Ich bin mit dir durch beide Lager gegangen und habe deine Erzählungen gehört aber immer noch nicht ganz verarbeitet. Man kann die Grausamkeiten dieser Lager nie verstehen und kann immer wieder nur hoffen das wir Menschen aus dieser schrecklichen Vergangenheit etwas gelernt haben! Eine sehr gute Bearbeitung ist das und ein gut gewählter Ausschnitt!lg eddie
Ursula Elise 20/01/2017 14:54
Ja, wirklich: diese Reihe ist etwas, wofür ich mich - und mit Hochachtung - bedanke.Ursula
("vorerst" lässt aber eine Fortsetzung erwarten)
RMFoto 20/01/2017 14:41
Danke, Stefan !!Roland