Vorher - nachher oder Vielfalt versus Einfalt
Nur durch Zufall betrat ich vor zehn Jahren das verlassene Mietshaus. Und war hingerissen. Hingerissen von den Details, mit denen die Bauherren vor etwas mehr als hundert Jahren ihr Haus ausstatteten: Geschmücktes Mauerwerk, Schnitzereien, ein hölzerner Erker, der den Bewohnern mit seiner warmen Holzvertäfelung innen eine schöne Atmosphäre schuf, der Flur von den Wohnungen durch einen prächtigen Türrahmen mit Oberlicht getrennt, Stuck an der Decke, große helle Räume mit hohen Wänden, Holztüren ... das Haus war von einem aufwändig verzierten schmiedeisernen Zaun umgeben, an dem ein Waldrebe rankte. Ich konnte mich kaum sattsehen. Und da man seinerzeit noch vor dem Tapetieren Zeitung als Unterlage verklebte, konnte ich die Jahreszahl 1899 entdecken. Das Haus war unbewohnt, in keinem besonders guten, aber ganz gewiss in keinem ruinösen oder hoffnungslosen Zustand. Was für eine Perle!
Als ich nach drei Jahren wiederkam, traf mich fast der Schlag. Ein großes Loch klaffte dort, wo der Besucher der Stadt ein Jahrhundert lang von einem schönen Mietshaus begrüßt wurde. Alles weg, nur der Zaun stand noch. Aber auch nicht mehr lange. Ich war regelrecht schockiert, weil ich mir eingebildet hatte, dass man so ein Haus in einer Hansestadt nicht einfach wegreißt, dass natürlich der Denkmalschutz sein Auge darauf hat, dass sicherlich jemand das Haus wieder in alter Schönheit erstrahlen lassen wird.
Pustekuchen.
Ein weiteres Jahr später war ich wieder vort Ort, und ein weiteres Mal fassungslos. Das Loch war gefüllt mit etwas, das dem Loch in punkto Schönheit kaum das Wasser reichen konnte. Ein erzhässlicher Zweckbauklotz mit ortsuntypischer Dachneigung, ohne jeden Dachüberstand und ohne jedweden architektonischen, farbigen oder sonstigen Reiz. Eine Tagesklinik, die selbst so viel Charme ausströmte wie ein aseptisches Krankenzimmer. Davor eine Hecke aus Koniferen, wie es sich in Deutschland mittlerweile gehört. Fürs Auge gab es nichts zu sehen, zu verweilen, zu beschauen.
Nur weg von hier ...
Als der G8-Gipfel in Heiligendamm tagte, hatte jemand aus Protest ein Transparent gehisst, weil das alte Haus so repräsentativ lag und damit eine gute Sichtbarkeit bot: "Wenn der Geist weiß, dass er sich durch Kampf nicht helfen kann, dann unterwirft er sich still und gedudig jedem Gewicht, was ihm auferlegt wird."
Ich bin mir durchaus bewusst, dass nicht jedes Haus erhalten werden kann. Und von Wirtschaftlichkeit habe ich auch schon etwas gehört. Aber vor diesen Zwängen standen auch schon unsere Altvorderen, und dennoch haben sie selbst ihre Zweckbauten, Postgebäude, Bahnhöfe, Scheunen, Ställe so gebaut, dass sie Seele hatten. Warum geht das heute nicht mehr?
Es ist traurig.
† Sebastian Haerter 20/01/2017 16:09
@GegenlichtfreundinLiebe Gegenlichtfreundin, schön, dass Du mit mir leidest... :-)
Ich freue mich, dass Du meine Art des fotografierenden Textens oder textenden Fotografierens magst. Deinen abschließenden Wunsch halte ich für einen frommen. Aber ich würde es mir auch wünsche...!
† Sebastian Haerter 20/01/2017 16:06
@brennabor 461Vielen Dank für Deine Worte. Manchmal kommt man sich ja schon blöd vor, sich über so etwas vermeintlich Profanes aufzuregen. Aber in meinen Augen geht hier Kulturgut flöten, das nie wieder jemand aufbaut. Wenn unsere Welt bald nur noch aus gesichtslosen Bungalows und Zweckbauten besteht, dann kann man das gut finden, muss man aber nicht...
brennabor 461 19/01/2017 22:35
Da fällt mir sofort ein: "Kunst ist Waffe" (Friedrich Wolf, 1928), auch ´Fotokunst´ kann das sein !!!Schön, daß Du mit dieser bildlichen Gegenüberstellung und den eindringlichen Worten diese Bau-Sünde anklagst.
Eine Hoffnung hab ich: das Fahrrad wird ja oft zum 2.Mal erfunden ... na mal sehen, was nach dieser Tagesklinik kommt, auch die steht nicht ewig, vielleicht wieder ein architektonisch schönes Gebäude ....
Ein toller Beitrag hier !!!
Gruß Jens
Gegenlichtfreundin 19/01/2017 21:34
Deine Zeilen sprechen mir aus dem Herzen. Wie oft habe ich solche Schicksale erleben müssen.Vielen Dank für Dein aufmerksames Auge und Deine oft ungewöhnlichen Bilder und Texte ... immer wieder eine Freude, sie anzusehen und zu lesen. Vielleicht können sie ein wenig dazu beitragen, die Sinne einiger Menschen zu schärfen. Das wäre schön.
LG Marion