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Wandbild 2006 und 1984, Esteli, Nicaragua

Wandbild 2006 und 1984, Esteli, Nicaragua

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Wandbild 2006 und 1984, Esteli, Nicaragua

Das Foto zeigt eine Mauer in Esteli, im Norden Nicaraguas, 2006 (analog). Das zweite Foto zeigt die gleiche Mauer 22 Jahre zuvor, im Jahr 1984.

Matagalpa 1984. Wandbild
Matagalpa 1984. Wandbild
Markus Bibelriether

Hierzu der Reisebericht, den ich 2006 geschrieben hatte:

Reise nach Nicaragua, Oktober und November 2006.

Text: Markus Bibelriether

Kartenhaus

Mit dem Flugzeug durch die USA zu reisen bedeutet heute zwischen Polizei-Kontrollen zu wandeln und sich von Zäunen flankiert, die zwar aus Nylon, aber in ihrer Funktion denen auf großen Rinderfarmen der USA ähneln, zu bewegen. Wie Viehherden werden die Menschen herausgeschleust und hereingeschleust, dabei fotografiert und Fingerabdrücke genommen. Atlanta – der größte Airport der USA. Hier landet alle paar Sekunden ein Flugzeug. Ebenso häufig startet eines. Hier werden Millionen Menschen zusammengetrieben und durchgeschleust. Laut rufende Ordner lenken die Menge und treiben sie an. Die Szenerie wirkt fast schon grotesk. Schon auf dem Weg zum Metalldetektor fallen die Hüllen. Jacken, Gürtel, Schuhe werden im Gehen ausgezogen, durchsichtige Tüten, die Flaschen und Gläser mit Flüssigkeiten enthalten werden gezückt – eine Armee in Strümpfen – Shampooflaschen, Pflegecremes und Zahnpasta-Tuben in den Händen. Einreise in die USA: Vom Verlassen des Flugzeuges bis zum Verlassen des Flughafengebäudes vergehen 1 ½ Stunden. Die Szenerie wirkt wie ein fragiles System, getragen von latenter Hysterie - ein Kartenhaus. Über allem wacht ein Regime im permanenten Ausnahmezustand. Bei der Rückreise durchlaufen wir vier derartige Kontrollen, bis wir in Boston die letzte, die fünfte Kontrolle vor uns haben um dieses Land in Richtung Europa zu verlassen. Hier finden sie im Handgepäck von Anna ein kleines Taschenmesser, das sich schon während der ganzen Reise in Nicaragua dort befand. Es hat also fünf von Paranoia motivierte Kontrollen gebraucht um dieses Taschenmesser zu entdecken. Anna hatte es einfach vergessen gehabt. Das wurde jetzt durch eine schikanöse Kontrolle bestraft.

Ray Charles

Die Maschine nach Managua war fast leer. Ray Charles oder seine Reinkarnation war aber mit an Bord. Er hatte keinen Flügel dabei. Statt der dunklen Sonnenbrille, die für den Musiker so typisch ist, trug der Mann im Flugzeug nach Managua eine extrem starke optische Brille mit breiten Rändern, eine dicke Standard-Hornbrille. Er ging an mir vorüber nach hinten zu den Toiletten.

Matagalpa

Die „Managua, Managua!!!“-Ausrufe der Jungen auf den Trittbrettern und die zerfallenden Blue-Bird Busse an sich, die von jeher ohne Auspuff auszukommen scheinen, vermochten nicht das Getrommel des Regens auf das Blechdach zu übertönen. Die Blitze des Gewitters fuhren wie Böllerschüsse auf die Stadt nieder. Der Fluss färbte sich erst ocker, dann braun, als hätte auf den die Stadt Matagalpa umgebenden Hügeln die Schneeschmelze eingesetzt. Tropischer Regen. Der Himmel verdunkelte sich und mein Schreibheft, das auf einem einfachen Holztisch unter einem Fenster im ersten Stock des Hotel Sosa lag saugte sich langsam mit Wasser voll, das über der Fensterbank hereingedrückt wurde.
Als sich das Gewitter verzogen hatte begegneten wir dem Geburtshelfer der FSLN: Carlos Fonseca Amador, oder besser seiner Biografie. Es war im Kaffee-Museum von Matagalpa, wo es am wenigsten zu erwarten war alte Aufnahmen von Carlos Fonseca zu finden. Er ist ein Sohn Matagalpas, hier geboren und aufgewachsen und wird als Märtyrer verehrt.
Wir verließen die Stadt Matagalpa in Richtung Leon.


Bombentrichter

Eine steppenartige Ebene. Die Hitze flimmerte. Am Horizont vermischten sich grün-braune Landschaften und diesiger Himmel. Im Dunst erschien ein Vulkankegel, dunkelgrau, anthrazit vor einem weißlichen Dunst. Der Bus, ein alter Schulbus aus den USA schien sich gerade in seine Einzelteile aufzulösen. Zumindest war der Lärm, der durch Schleifgeräusche und aneinanderschlagendes Metall verursacht wurde enorm.
Am Straßenrand standen Kinder in Lumpen. Sie waren wohl zwischen fünf und zehn Jahre alt. Ihre Hände stützten sich auf Schaufeln. Die Schaufeln, auf die sie sich aufstützten, hatten etwas besonderes. Sie waren nach der Körpergröße eines Kindes gefertigt worden. Am linken Straßenrand füllten die Kinder braune Erde in große, tiefe Krater die sich im Asphalt gebildet hatten. Während sie mit ihren Kinderschaufeln mühsam ein Schlagloch, groß wie ein Bombentrichter mit Staub und Steinen aus dem Straßengraben füllten, gingen andernorts drei neue Asphalt-Krater auf. Die Reifen unseres Busses zermahlten den zerfallenden Asphalt zu Staub. Die Kinder in Lumpen taten ihren Staub dazu - in sengender Hitze. Staub zu Staub. Dann stützten sie sich wieder müde auf ihre Schaufelstiele, sahen dem Bus nach, verschwanden in einer Wolke.
Der Bus stoppte in scheinbar unbewohnter Steppe. Weiße Hemden, blaue Hosen und blaue Faltenröcke stürmten mit viel Lärm und Geschrei den Bus. Kinder in Schuluniformen!

Fliegende Kühlschränke

Mit jedem Kilometer, den wir uns der Stadt Leon näherten füllte sich mehr und mehr der besagte, schon in Auflösung begriffene alte Schulbus. Mit jedem Passagier und jedem Händler, der zustieg schien die Temperatur im Bus anzusteigen. Frauen in ausladenden, ehemals weißen Küchenschürzen drängten sich durch den Mittelgang. „Gaseosa!, Enchilada!, Helado!!!“ riefen sie aus, während sie Tabletts mit ihrer Ware über die Köpfe der Fahrgäste balancierten. Gleichzeitig dröhnte Musik aus den Lautsprechern, die so groß wie Kühlschränke waren und einen enormen Schalldruck absonderten. Salsa, Merengue, Disco, was das Radio so zu bieten hatte. Ich hielt die Augen geschlossen, weil mir der Fahrtwind ansonsten den pulverisierten Straßenbelag in die Augen geschleudert hätte. Ich spürte die Erschütterungen der kaputten Straße im Steißbein und im Rücken und die Erschütterungen, das Wummern der schwarzen Kühlschränke in der Magengegend. Plötzlich löste sich der Bus mitsamt den Kühlschränken von der holperigen Erde. Es blieben die Bässe in der Magengegend. Der Fahrtwind auf meinen geschlossenen Augen nahm zu. Ich öffnete die Augen und sah, dass der Bus sich auf dem neuen, unbeschädigten quasi jungfräulichen Asphaltbelag der Straße von Chinandega nach Leon befand und die Geschwindigkeit erhöhte. Dann gab es einen Knall und ein Geräusch wie ein hochfrequentes Klatschen. Der Fahrer ließ das Fahrzeug am Straßenrand ausrollen. Das Klatschgeräusch wurde mit abnehmender Geschwindigkeit auch langsamer.











Leon

Johlende Menschen auf Kleinlastern mit rot-schwarzen Fahnen. Sie zündeten Feuerwerk und hatten Trommeln dabei. Nein, sie waren nicht zum nächsten „Club-Spiel“ unterwegs, obwohl die Farben der Fahnen, die sie dabei hatten gepasst hätten. Es sind Anhänger der „Frente“ gewesen, der „Front“, wie die Sandinistische Befreiungsfront FSLN von ihren Anhängern genannt wird. Die meisten von denen, die auf der Straße waren hatten die Zeit der Diktatur und die Kriegszeit nicht selbst erlebt, kennen sie nur aus Erzählungen ihrer Eltern, die noch mit der Waffe in der Hand gegen die Diktatur Somozas gekämpft haben. Die jungen Leute waren euphorisch und sangen Lieder. Viele von ihnen kennen nur ein Leben zunehmender Verarmung und Arbeitslosigkeit. Sie kommen aus den Vororten Leons, den Armenvierteln der Stadt. Die Erwartungen dieser jungen Leute an die nächste Regierung scheinen hoch zu sein. Die Liberalen und Konservativen sind gespalten. Die FSLN hatte gute Chancen als stärkste politische Kraft aus den Wahlen hervor zu gehen.
Kinder füllen Schlaglöcher mit Sand während Schulkinder in sauberen blau-weißen Uniformen auf dem Weg nach Hause sind.
In den Nobelhotels des historischen Zentrums von Leon, der alten, ehemaligen Hauptstadt Nicaraguas logieren reiche Touristen aus den USA. Bettelnde Kinder hängen sich, wenn die Touristen das Hotel verlassen an ihre Fersen. In den Straßen von Leon, den Häusern und dem Fußboden der Kathedrale ist vor bald dreißig Jahren viel Blut versickert, damit Nicaragua ist wie es ist.
Nach sechzehn Jahren sind die Erwartungen an die FSLN hoch. Unterdessen ist die Gedenktafel, die jahrelang am Eingang der Kathedrale eingelassen war verschwunden. Auf der Tafel stand, dass am 15. Februar 1979 um 9 Uhr am Morgen fünf (auf der Tafel mit Namen genannt) Companeros durch die somozistische Garde ermordet wurden. Sie wurden in der Kathedrale von den Soldaten erschossen. Die Jugendlichen waren unbewaffnet und teil einer gewaltlosen Protestaktion. Die Kathedrale ist renoviert worden, der Platz recht schön hergerichtet. Nur wenig erinnert noch an den Aufstand in der Universitätsstadt Leon. Zwei großflächige Wandbilder begegneten mir. Ich hatte sie schon 1984 erstmalig fotografiert. Sie waren immer noch erhalten. Das eine Wandbild zeigt eine drachenartige Schlange mit drei Köpfen. Die Schlange kriecht aus einem olivgrünen Helm, der die Aufschrift CIA trägt. Unter dem Helm liegen Leichen in einer von Häuserzeilen gesäumten Straße. Die Toten sind halb bedeckt von Fahnen und Transparenten. Dahinter fliehende Menschen. An der Häuserzeile ein Graffiti in den Farben Rot und Schwarz, die Buchstaben: FSLN. Im oberen Teil des Wandbildes werden verschiedene Motive durch die aufgerissenen Mäuler der Schlangenköpfe bedroht. Diese abgebildeten Gegenstände zeigen symbolhaft die Hauptinhalte der Sandinistischen Revolution. Da ist die Alphabetisierungskampagne, dargestellt durch große Buchstaben. Ein Mädchen in blau-weißer Schuluniform hält das B hoch. Auf dem A steht eine Frau in Armeeuniform mit einem Baby im Arm, im anderen Arm ein Gewehr. Auf dem C sitzt ein Campesino und liest gerade in einem Buch. Daneben wird eine Wahlurne von einem Schlangenkopf bedroht, in die gerade zwei Hände Wahlzettel einwerfen wollen. Ein Arbeiter steigt eine Leiter hinauf, die an eine Mauer gelehnt ist und hält die Karte Nicaraguas über dem Kopf, auf der die Worte „Reforma Agraria“ geschrieben sind.
22 Jahre nach meiner ersten Reise hierher sind zu dem Wandbild weitere hinzu gekommen. Entpolitisierte, globalisierte Graffiti, wie sie mir auch an der S-Bahnstrecke nach Feucht tagtäglich begegnen. Sprachlose Comic-Figuren in den leuchtenden Farben Blau und Schwarz.. Daneben verblasst und teilweise abgeblättert das Wandbild von 1984. Davor, auf einem betonierten Platz versuchten Jugendliche einen Ball in einen Basketball-Korb zu zaubern.
Anna hatte während wir in Leon waren Geburtstag. Das war Grund genug ein Taxi zu nehmen und nach Poneloya ans Meer zu fahren. Der Pazifik-Strand ist nur wenige Kilometer entfernt und bietet einen unendlichen, Sandstrand, der sich im Dunst der salzigen Gischt verliert.


San Carlos beginnt in Managua.

Nachdem Anna und ich uns nacheinander auf die Gepäck- und Menschenwaage gestellt hatten, erhielten wir unsere Bordkarten und konnten durch die Kontrolle gehen. Im Wartebereich für Inlandflüge des Flughafens von Managua hielten sich schon eine Handvoll Leute auf. Darunter war Mayela, die Frau von Oscar Chamorro, die mich nicht gleich erkannte. Oscar wohnte als Teilnehmer des ersten Jugendaustausches Mitte der 1980er Jahre bei mir in Nürnberg. Seitdem halten wir einen lockeren Kontakt. Vor zwei Jahren hatten wir Mayela und Oscar im Haus ihrer Eltern in San Carlos besucht.


San Carlos hat sich schön gemacht.

Nachdem ich aus dem kleinen 12-sitzigen Flugzeug herausgeklettert war, balancierte ich über ein paar Pflastersteine, die in einer schlammigen Pfütze lagen. Ein Taxi holperte langsam über einen unwegsamen Feldweg zum „Flughafengebäude“ herauf. Schlamm und Faustgroße Steine - das war die Auffahrt zum „Airport“ von San Carlos. Ich hatte gehört, San Carlos soll sich schön gemacht haben...
Das Taxi brachte uns zu Cabinas Leyko, das ja immer noch das beste Hotel am Platz sein soll. OEA, die Organisation Amerikanischer Staaten hatte mit ihren Wahlbeobachtern das Hotel fast gänzlich in Beschlag genommen. In einem Hof zum See hin gab es noch eines der neuen, zum Teil noch im Bau befindlichen Zimmer. Hier knüpfte ich unser Mosquitonetz an die Zimmerdecke.
San Carlos hat sich schön gemacht, heißt es. Man merkt es zunächst daran, dass man nach Sonnenuntergang durch das Zentrum des Ortes spazieren kann, ohne anschließend bis zu den Knien voll Schlamm gespritzt zu sein. Alle Straßen im Zentrum sind erneuert worden. Selbst diverse Schmuddelecken wie die Straße vom Friedhof Richtung See, der Bereich um die Treppe zwischen Cancha und Marktstraße und natürlich der Busbahnhof. Es gibt auch die Schwärme von kleinen Fliegen nicht mehr, die einem nach Sonnenuntergang die Atemwege verstopfen konnten und vor nicht allzu langer Zeit noch Stromausfälle verursachten. Es hat ein neues, schönes Restaurant geöffnet und von Staatswegen scheint man mit einem noch nie da gewesenen Touristenansturm zu rechnen. Am Malecon, direkt am Wasser ist ein monumentaler Rohbau entstanden, der angeblich bald die Einreisebehörden beherbergen soll. Noch befindet sich die „Migracion“ in einem verfaulenden Holzverschlag auf Pfählen im Wasser des Rio San Juan. Hier läuft man Gefahr noch bevor man einreisen kann in den Fluss zu stürzen. Im neuen Gebäude der „Migracion“ wird man Gefahr laufen sich zuverirren. Am Malecon hat sich für ein paar Wochen ein kleiner Jahrmarkt eingefunden. Riesenrad und Karussell werden zur Nacht, wenn der Strom nicht ausfällt mit abenteuerlichen Konstruktionen aus alten Motoren und Autoreifen angetrieben. San Carlos macht sich schön.


Isolation

150 Jahre zurück. San Carlos war von jeher Durchgangsstation. Tausende Einwanderer, unterwegs von New York nach San Francisco kamen an San Carlos vorbei. Sie hatten die Westküste im Blick und ließen sich von einem alten Fort und ein paar Hütten nicht aufhalten. Da hat sich bis heute nicht viel geändert. „Lonely Planet“ (der Reiseführer) ist nicht 150 Jahre alt, empfiehlt aber dennoch diesen Ort (San Carlos) am besten hinter sich zu lassen. „Ich will hier nicht tot über den Zaun hängen“ sagt er nicht, aber im Grunde hat sich die letzten 150 Jahre nicht viel getan. Hütten gibt es noch, schlammige Straßen und die räumliche Isolation besteht seit über 20 Jahren gleichermaßen. 9 Stunden über Pisten, 12 Stunden auf einem Schiff oder ein kurzer, teurer Flug.
Aber San Carlos hat sich schön gemacht! Der Reiseführer ist wie Seinesgleichen so oft falsch informiert. Es bleiben nämlich mehr und mehr Auswärtige in der Stadt hängen. Manche nur zu Besuch, für kurze Zeit; andere sind dauerhaft hängen geblieben. Einer der Gründe dafür sind die Aktivitäten, die sich aus den Städtepartnerschaften ergeben. Sie haben diesen unbedeuteten Ort am Rio San Juan heute weltweit vernetzt.
Die Piraten William Walkers hatten auf ihren Raubzügen sicher hauptsächlich die Reichtümer der schönen Kolonialstadt Granada im Blick. In San Carlos war wohl nicht recht viel zu holen. Heute ist dort viel zu „holen“. Die Freundlichkeit der vielen lieben Menschen zum Beispiel., oder das Zentrum einer kleinen, malerisch am Wasser gelegenen Stadt.
Wie vor 150 Jahren schon, verkehren zwischen San Carlos und der Karibikküste auch heute regelmäßig Boote. Die Dauer dieser Flussfahrt hat sich nicht wesentlich verändert. Greytown ist in manchen Karten noch eingezeichnet obwohl es seit Langem verschwunden ist. San Juan del Norte ist in den meisten Karten eingezeichnet. Beide Orte sind verschwunden. Heute kauft man in San Carlos am Hafen eine Fahrkarte nach San Juan de Nicaragua. Um deutlichere Vorstellungen über das was in den Karten als Greytown eingezeichnet ist zu bekommen, haben wir uns auf eine Fahrt den Rio San Juan hinunter eingelassen. Nachdem wir die Lichter von San Juan de Nicaragua mit seinen 2600 Einwohnern mitten in der Nacht sahen, hatten wir einen Ort wahrhaftiger Isolation erreicht. Die Flussfahrt von San Carlos nach El Castillo ist ja ziemlich bekannt. Lauschig, den ruhigen, breiten Fluss hinunter zu fahren. Vorbei an Fincas, Orangenplantagen und Hütten wird zunächst der Ort Sabalos erreicht. Sabalos ist ordentlich gewachsen, ein großes Dorf geworden. Vor 20 Jahren hieß es „Boca de Sabalos“ und war nur eine Anlegestelle mit ein paar Holzschuppen. Hier steigen heute viele Menschen ein und aus. Autos fahren an der Betonmole vor, bringen Passagiere oder holen welche ab. Die Urwälder, die in den 1980er Jahren zwischen Sabalo und El Castillo zu finden waren sind heute verschwunden. In El Castillo ist Frühstückspause. El Casillo ist ein malerischer Ort ohne Autos. Bunte Holzhäuser von der Ruine der Fortaleza überragt. Der Fluss beschreibt einen Bogen um den Ort und schäumt in Stromschnellen über Felsen und Flusskies. Hier wurde ein zweites Boot eingesetzt. Statt der geplanten halben Stunde verlängerte sich der Aufenthalt weil Fracht umgeladen werden musste. Das Gewicht musste so auf die zwei Boote verteilt werden, dass sie unbeschadet über die Stromschnellen kommen. Von El Castillo bis zur Grenze Costa Ricas sind es etwa 8 Kilometer. Männer, die von ihrem Aussehen eher nach Jamaika gepasst hätten, trieben schon hinter El Castillo die Besatzung zur Eile an. Sie kannten den Lauf des Flusses bis an die Karibikküste und sahen schon die durch Verspätung verursachten Schwierigkeiten heraufziehen, während von Osten her ein Wetter heraufzog. Der Himmel war grau und verfinsterte sich zusehens. Ab jetzt war der Rio San Juan bis an die Mündung Grenzfluss. Die beiden Boote stoppten häufig an einzelnen Hütten, die mit Palmblättern gedeckt waren. Abwechselnd am Costaricanischen Ufer und auf Nicaraguanischer Seite legten wir an. Als Boca de San Carlos mit dem dazugehörigen Grenzposten in Sichtweite kam, war es schon Nachmittag. Die linke Seite des Flusses war gänzlich unbesiedelt. Wir fuhren Stunde um Stunde am Regenwald des Naturreservates „Indio-Maiz“ entlang. Brüllaffen waren trotz des Motorenlärms zu hören. Adler und Reiher begleiteten die Boote. Am Ufer hatte sich vielerorts Treibholz verfangen. Hier lagen bewegungslos Schildkröten und Kaimane. Die Besatzung war in ihrem Zeitplan vollkommen in Verzug geraten. Die Fahrt sollte 8 – 10 Stunden dauern. Nach 8 Stunden hatten wir gerade mal die Siedlung Ceiba erreicht. La Ceiba, der heilige Baum der Maya. Es setzten heftige Regenschauer ein, die nichts heiliges hatten. Am Kontrollposten „Delta“ wurde es Nacht und durch den Regen und den Wind auch empfindlich kalt. Der Steuermann hatte alle Mühen aufwenden müssen um nicht auf einen Baumstamm, der im Fluss trieb aufzulaufen. Taschenlampen waren die einzigen Hilfsmittel, die sie hatten. Das Licht wurde aber zum größten Teil von den dicken Regentropfen zurückgeworfen und blendete den Steuermann. Wir waren komplett bis auf die Unterwäsche durchnässt. Im Boot stand das Wasser. Lichtkegel tasteten sich am Ufer entlang. Es konnte nur noch langsam und vorsichtig gefahren werden. Die Haut an meinen Händen war weiß und aufgequollen, wie nach einer Stunde Badewanne. Stunden vergingen in höchster Konzentration. Plötzlich war ein sanfter Wellengang aus langgezogenen Wellen zu spüren. Das musste die in der Mündung des Rio San Juan auslaufende Brandung der Karibik sein. Kurze Zeit später sahen wir Lichter. Enrique Gutierrez, der Besitzer des Hotel Evo erwartete uns an der Mole. Den Tip zum Hotel Evo zu gehen hatte ich von dem Lehrer Augustin Ortiz. Ihn hatten wir in San Carlos getroffen. Augustin war einer der Teilnehmer am ersten Jugendaustausch im Rahmen der Städtepartnerschaft Mitte der 1980er Jahre.

San Juan de Nicaragua

Greytown und San Juan del Norte sind Vergangenheit. San Juan de Nicaragua wirkt sauber und gut organisiert. Der Ort hat keine Anbindung an das übrige Nicaragua auf dem Landweg. Auch deshalb ist San Juan de Nicaragua eine autofreie Stadt. Es ist auch nicht erlaubt Autos hierher zu bringen. San Juan de Nicaragua ist eine Neuansiedlung, die nach dem Ende des Krieges gebaut wurde. Der Alt-Ort war in den 1980er Jahren weitgehend zerstört worden. Die Häuserzeilen sind mit einem Netz aus betonierten Stegen und Wegen verbunden. Man befindet sich hier in einem ausgedehnten Sumpfgebiet. Es gibt keine Chayules aber dafür Stechmücken.


Reise in die Vergangenheit

Der Dschungel hat sich von Grey-Town alles zurückgeholt was aus Holz gebaut war. Holz ist beim Hausbau entlang des Rio San Juan immer noch der wichtigste Werkstoff. Greytown muss ein lebendiger Ort gewesen sein, auch durch seine Anbindung an die Städte New York und New Orleans. Aber vor allem zahlreiche Artefakte aus Eisen und Stein lassen auf Größe und Lebendigkeit schließen. Einer der Söhne von Sr. Gutierrez bot sich an uns mit seinem Boot die Gegend zu zeigen. Neben kleinen feuerroten, giftigen Fröschen am Wegesrand und Affen, die durch die Bäume turnten gab es im Wald viele Dinge, die die Phantasie anregten. Eisenbahnschienen ragen da aus dem Boden, oder Wasserrohre. Man hatte schon vor 150 Jahren begonnen einen Kanal zu bauen. Die Landschaft wurde damals tiefgreifend umgestaltet. Wir befuhren mit unserem von fünf PS angetriebenen, kleinen Boot den Interozeanischen Kanal. Einschränkend muss erwähnt werden, dass lediglich vier Meilen davon fertig wurden. In großes eisernes Schiffswrack lag halb unter Bäumen versteckt. Fledermäuse nutzen es heute als Schlafplatz. Alle Spuren der Hafenanlagen sind heute zugewachsen. Wie ein Industrie-Denkmal ragt lediglich ein eiserner Verladekran aus dem Wasser. Er hat Hurricans und Treibholz bis heute standgehalten. Wo sich vor 150 Jahren die Hauptstraße von Greytown befunden hatte ist heute eine Landepiste für Flugzeuge. Diese Piste ist in deutlich besserem Zustand als die in San Carlos, wird aber von keiner Fluglinie angeflogen. Neben der Piste kann man in Erwartung der Schlangen, die sich dort aufhalten im hohen Gras die Reste der Friedhöfe von Greytown und Hausfundamente finden. Sogar eine alte eiserne Bettstatt lag dort zwischen Fundamenten. Auf Grabsteinen sind Englische Namen zu lesen. Wir fuhren mit unserem kleinen Boot an den Strand. Es ist eine Landschaft aus Kanälen, Lagunen und Sandbänken die in ständigem Wandel begriffen ist. Unmengen von Treibholz haben sich angesammelt. Der Rio San Juan bringt große Mengen an Sedimenten mit. Bei Ebbe fischen in den abgeschnittenen Lagunen die Einwohner von San Juan de Nicaragua. Das gleiche tun auch die Krokodile und Kaimane, die es im Delta gibt. Auf der Rückfahrt sahen wir sie auf einer Sandbank liegen.

Begegnungen

Wir besuchten in San Carlos Silvia und Luis Eduardo Barrios. Sie beherbergten mich 1986 für ein paar Wochen in ihrem Haus. Luis Eduardo ist einer der Teilnehmer am ersten Jugendaustausch mit Nürnberg. Er muss seit einiger Zeit nicht mehr jede Woche mit dem Motorrad nach Nueva Guinea zum Arbeiten fahren. Er ist froh wieder in der Gegend arbeiten zu können. Die beiden Kinder, Pamela und Luis Martin sind mittlerweile erwachsen und zum Studieren nach Leon gegangen. Pamela war 1986 noch gar nicht auf der Welt und Luis Martin hat als Zweijähriger eine Tüte Mehl über sich ausgelehrt. Diesen Moment habe ich im Bild festgehalten. Luis Martin freut sich noch immer über dieses Bild. Califa ist mittlerweile gestorben. Der Hund hatte schon vor zwei Jahren nur noch einen Zahn und eine kranke Haut, die vom ständigen Kratzen blutig war. Califa ist durch Elisa ersetzt worden. Elisa ist ein stattlicher grüner Papagei. Max hat sich zu einem erwachsenen, scharfen Wachhund entwickelt. Wer ins Haus will kommt an Max nicht vorbei. Max hatte Annas und meine Geruchsnote über zwei Jahre hinweg gespeichert und erkannte uns wieder.
Alkoholverbot: Für das Wochenende der Wahl wurde im ganzen Land ein Alkoholverbot verhängt. Da es vielleicht nach der Wahl nichts mehr zu feiern geben könnte, wurde am Freitag, 3.November La Champa, die Disco von San Carlos geöffnet. Wir hatten uns locker verabredet. Schließlich kamen Sepp, Lidieth mit ihrer Schwester, Stefan, der Chirurg, Noel, der Anästhesist (da konnte also wirklich nichts passieren.), und Hilde, die Direktorin der Clinica San Lucas. Der Abend war nicht sehr kommunikativ. Die Musik war dermaßen laut, dass man nur zuschauen konnte wie das Tona oder das Vicoria weniger wurde, während man auf einen Stromausfall hoffte.
Itza, die Tochter von Lidieth feierte am Samstag vor der Wahl zusammen mit zahlreichen anderen Mädchen aus San Carlos Konfirmation. Ein Zug aus Blechbläsern, geschmückten Wagen und Menschen zog durch die Straßen. Böller wurden gezündet. Der Bischof wurde am Kirchenportal von Bürgermeisterin Marisol McRea begrüßt. Lidieth und Sepp bereiteten in ihrem neuen Haus ein Essen vor.

Soletiname

Das durch den Poeten, Priester und späteren Kulturminister Ernesto Cardenal so bekannt gewordene Inselarchipel, liegt grün und still in der Weite des Nicaragua-Sees. In kleinen Werkstätten gingen die Campesinos ihrer handwerklichen Arbeit nach. So weltbekannt und doch so unspektakulär. Wir besuchten die Kirche von Ernesto Cardenal. Alles lag wie in einem Dornröschen-Schlaf, beschattet von tropischen Bäumen.

Granada

Die kleine Stadt ist zwölf Stunden mit dem Schiff von San Carlos entfernt, am anderen Ende des Nicaragua-Sees gelegen. Statt eine schlaflose Nacht auf dem Schiff zu verbringen flogen wir lieber von San Carlos nach Managua und nahmen einen Bus vom Mercado R. Huembles nach Granada. Am Abend sammelten sich Hunderte Menschen am Zentralpark. Ein Autokorso bewegte sich hupend durch die Straßen. Es waren die Fahnen der FSLN, die im Wind flatterten. Es schien so als hätte Daniel Ortega nach 22 Jahren erneut eine Wahl gewonnen. Seit 16 Jahren bildeten Neoliberale und Konservative die Regierung, profitierten von einem langen Krieg und einer zerstrittenen FSLN. Die FSLN hatte sich gespalten und Ortega war immer sehr umstritten gewesen, schien geradezu an der Macht zu kleben. Es war noch nicht ausgezählt, aber die Zeitung El Nuevo Diario schrieb bereits von einem nicht umkehrbaren Ergebnis. Die Stimmung in der Stadt hatte etwas von einem historischen Augenblick. Schon im November 1984 beobachtete ich die Wahlen, die ersten freien Wahlen nach dem Sturz der Somoza-Diktatur. Heute sind es die Kinder der Sieger von damals, die sich auf den Plätzen und Straßen versammeln. Der touristische Reiz Granadas trat während der Wahlen in den Hintergrund. Wir besuchten die Kulturstiftung von Dietmar Schönherr, die „Casa de los tres Mundos“. Jemand übte im großen Auditorium am Flügel. Maler standen an ihren Staffeleien. Das Haus ist auch nach vielen Jahren noch sehr lebendig.


Skorpione an der Kasse

Lidieth und Sepp waren gerade dabei ihr Haus, da sie erst kürzlich bezogen hatten umzubauen. Wir hatten zusammen mit Hilde geeignete Fliesen gefunden und standen in einem Baumarkt in Managua an der Kasse. Was passiert wenn ich in einen Karton mit Fliesen fasse?. Hinter der Kasse hat jemand mit Klebstreifen etwa ein Dutzend Skorpione an die Wand geheftet. Jeder war mit einem Namen versehen, mit Kugelschreiber daneben geschrieben. Jeder Name gehörte zu einem Mitarbeiter des Marktes, der schon einmal in einen Karton mit Fliesen gefasst hat – ohne vorher nachzusehen was da wirklich drin ist. Wir hatten jedenfalls Kartons mit Fliesen für ein Badezimmer in San Carlos gefunden. Hilde schickte die Fliesen später mit dem Bus nach San Carlos, wo sie nach 9 Stunden Busfahrt gut angekommen sind.


Managua feiert den Wahlsieg

Der Wahlsieg der FSLN wurde auf dem Platz zwischen der Ruine der Kathedrale und dem alten National-Palast gefeiert. Das Zentrum von Managua war verstopft. Kilometerlange Auto-Karawanen bewegten sich ins Zentrum. Daniel Ortega kam auf den Platz. Menschen waren betrunken, jubelten und bildeten Pyramiden. Aus Lautsprechern ertönten alte Revolutionslieder...

Text: Markus Bibelriether

Comentarios 1

  • pesce4221 16/08/2010 18:08

    gelungene doku

    danke für deine ausführliche reisebeschreibung