Was ich bin

Was ich bin

Er wollte wissen, ob das da draußen jetzt Schnee sei.
Alles sah so anders aus. Hell, kühl, die Farben waren weg. Aber trotzdem sah es wunderbar aus.
Schon neulich hatte er mich gefragt, was denn Schnee sei. Es war draußen aber eher ungemütlich.
Das, was Schnee war, wurde schnell zu Matsch. Nein, da wollte ich nicht raus.
Also setzte ich ihn auf den weichen Teppich. Und den fand er dann auch ganz gut.

"Ja, das ist jetzt wirklich Schnee. Und er bleibt auch liegen, weil es jetzt kalt genug dafür ist."
"Ich will da jetzt raus."
"Ok …"
"Ich brauche Schuhe. Meine Füße können Schnee ja nicht so gut vertragen."
Er hatte recht, und wir machten uns auf die Suche nach etwas Brauchbarem. Sie sind so klein, seine Füße.
In der Küche, wo gestern noch gemütlich gefrühstückt wurde, wurden wir fündig. Einen blauen Sack für Papiermüll in Streifen geschnitten würde sich gut machen - und auch gut zum Schnee passen. Und Tesa ist auch nicht schlecht.
Er war recht zufrieden. Auf die Schleife zum Zubinden konnte er verzichten.
Nun ab in die Manteltasche.
Es gab viel zu sehen. Und überall Schnee, Schnee, Schnee.
Und Leute, die uns verwundert und erfreut zuschauten. Einer stellte sich gleich mit seinem Fotoapparat daneben.
Die Schuhe hielten gut. Die Manteltasche war dann immer wieder Zufluchtsort … denn ums hölzerne Ärschlein herum wurde es doch kalt.
Dann dieser Augenblick.
"Da! Da will ich hin!"
"Mitten rein? Meine Schuhe!"
"Stell dich bloß nicht an."
Ich ging hin und stellt ihn ab, den kleinen Holzkameraden.
"Hallo!"
Ich hörte keine Antwort. Doch er stand da ganz andächtig. Als hörte er etwas. Seine kleine hölzerne Hand berührte sanft den Stamm.
"Er antwortet mir nicht. Und trotzdem ist da etwas, was ich spüre."
"Was denn?"
"Er ist, was ich bin."
"Ja."
"Aus Holz."
"Ja."
"Wie kommt es, dass ich ihn verstehe, obwohl er nichts sagt?"
"Er spricht nicht, aber er erzählt eine Geschichte."
"Was für eine?"
"Er erzählt vom Alter."
"Vom Alter?"
"Ja, vom Alter."
"Wie kann man nicht sprechen und dennoch erzählen?"
"Siehst du all die Ringe?"
"Ja."
"Sie erzählen von seinem Alter."
Eine Weile stand er da, ganz ruhig und andächtig.
"Wie alt mag er sein?"
"Etwa 60 Jahre. Jeder Ring ein Jahr."
Ich bemerkte wohl, dass er kurz an sich herab sah.
"Wie alt bin ich überhaupt?"
"Eigentlich sind wir alle unendlich alt."
"Hmmm?"
"Alles an uns ist schon unendlich alt, weil es doch immer schon irgendwie da war. Du bist aus einem Baum, wie diesem gemacht. Aber jetzt bist du etwas Neues - für mich Neues. Und weil Alter eigentlich zeitlos ist, bleibst du für mich der kleine Holzkamerad. Irgendwie ohne Alter."
Ich merkte wohl, dass ihn das nicht zufrieden stellte.
Er schaute sich wieder die Jahresringe an, lauschte und spürte. Als würde er Eins mit dem Baumstamm werden, schien er zu lächeln.
"Jetzt weiß ich, warum ich selbst solche Linien an meinem hölzernen Körper habe. Ich bin ein Teil eines bestimmt großen, alten Baumes. Und ich trage ein bestimmtes Alter von ihm in mir. Ich bin ich und ich bleibe ich. Und ich habe ein Alter, das immer gleich bleibt. Nichts kommt dazu und nichts geht weg..
Ich bin ich."
Ich staunte über den kleinen Kerl.



Walter Spira 2012 - Um zu werden was Du bist
https://www.youtube.com/watch?v=vhCk9XyI4PQ