Zehn Jahre
Lubitel 166 Reala Fuji August 2009
Text zum Jubiläum - heute ist es soweit
Zehn Jahre
Es regnet Blumen, manchmal auch Innereien, meistens eigentlich Innereien. Das Wenigste davon sind Spendenorgane. Ich bin wetterfühlig. An manchen Tagen regnet es in mir. Ich sitze dann nur neben dem Bett und verfasse Schüttelreime, oder führe längst fällige Gespräche. Dann stehe ich wieder auf und überprüfe seine Sauerstoff- und Pulswerte. Taktet die Lunge einigermaßen normal!? Heute den Doktor holen, oder nicht!? Immer wieder will die Dienststelle etwas von mir. Warum die Pläne nicht ordentlich geführt sind und wer am Sonntag bei ihm ist. Dabei interpretiere ich jedes Geräusch seines Atems: grad noch in Ordnung, komisch aber vertretbar, kritisch, äußerst kritisch. Neuerdings ruft auch immer wieder dieses blonde Luder hier an. Die einzige Frau mit erkennbarer Hüfte im Büro. Sie lässt mich spüren, dass ich eine Pflegekraft mit hängendem Hammer bin, der ab und zu etwas Swing im Arbeitsalltag gebrauchen kann. Das ist schon ganz schön. Kann aber auch echt nerven.
Er will mir was sagen. Ein Luftröhrenschnitt vor ein paar Jahren und eine Trachealkanüle lassen ihn tonlos sein. Ich verstehe ihn blind, oder auch gar nicht. Er spricht ohne Klang. Im Raum schwirren seine vielen ungehörten Worte umher. Kopfteil des Bettes hochstellen. Dann sieht er mich besser. Ich verstehe wieder kein Wort. Ich buchstabiere, nehme das Alphabet zur Hilfe. Bevor ich seinen Wunsch verstanden habe, ist er wieder eingeschlafen. Erschöpft. Rauchpause ohne Zigarette. Ich rauche nicht, ein echter Nachteil hier. Ich kann ja auch nicht ständig eine Runde mit dem Hund gehen. Die Nahrungspumpe piept. Eingang zur Sonde verklebt. Kriege ich das alleine hin, oder muss ich Hilfe holen!?
Der Rollstuhl steht im Wohnzimmer, schweigend, mit schlecht aufgepumpten Rädern und verkannteter Kopfstütze. Uhren ticken. Der Raum ist leer. Keine Zeit, um melancholisch zu werden. Ich muss wieder zu Ihm, um seine Werte zu prüfen. Sind die Augen wach oder fiebrig!? Hat er Schmerzen, die er nicht benennen kann!? Habe ich etwas übersehen? Rasselt das Rippenfell, oder ist es das ganze normale Überlebensgel. Urin flockig oder klar!?
Am 12. August 1999 hab ich mich bei ihm vorgestellt. Ein schüchterner Mann im Rollstuhl, neben seiner jungen und dynamischen Frau. Noch beweglich, viel Humor, viel Nase. Ein Freak, fast Kumpel. Etwas Charme ist geblieben. Noch ist er nicht ertrunken. Noch lächelt er manchmal und hat Augenbrauen und Herz mit leichtem Hang zum Waigelismus.
Wenn mir Freunde über den Bauch streicheln, und ganz speziell eine Freundin, dann ist für die nächste Stunde alles gut.
12. August 2009
bakmak 13/08/2009 0:10
das ist ein Text!!!+++
Zwei AnSichten 12/08/2009 12:26
!lg Ingrid
Monja Litzke- Ansichts Sache 12/08/2009 8:48
deine texte beschäftigen mich manchmal stundenlang..das ist auch wieder so einer...