(022) Perlen
Ich bin müde, aufgeregt, von den Erlebnissen des Tages belastet und doch so frei. Diese Frau, ihre Einsamkeit, die mir wie eine in Sehnsucht eingefüllte Erscheinung vor den Augen flimmert, die sich auf meine Netzhaut prägt, von der ich den Blick nicht lassen kann, diese Frau zieht mich an.
Kein Locken, kein Fordern, kein Ablehnen, keine Reaktion. Ihr Blick wandert umher, ohne zu sehen. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, in einer Welt der Einsamkeit. Es ist spät, sehr spät. Schöne Menschen liegen zu dieser Stunde in ihren Betten, zerwühlen die Laken, finden nicht in den Schlaf, weil sie gegenseitig die Gründe ihrer Schönheit suchen. Diese Frau ist schön, ich bin es nicht, deshalb liegen wir nicht in zerwühlten Laken, besetzen kein Lotterbett, lieben uns nicht, schenken uns nicht die kleinen, feuchten Perlen der Lust.
Meine Romanhelden kennen eine solche Situation nicht, weil ich sie nicht kenne. Ich lerne diese Situation kennen, weil mich diese Frau ansieht, weil sie ihren Blick auf mich gerichtet hat, weil ich ihre Einsamkeit darstelle. Vor mir steht ein Glas Rotwein. Ich habe es bestellt. Oder habe ich es nicht bestellt? Ich weiß nicht! Es steht vor mir, ich trinke, denke, sinne. Eine Zigarette, ich bin nervös, halte den Blicken dieser Frau stand und denke, wünsche mich zu ihr und will doch fliehen.
Der Rauch der Zigarette steigt auf und ich genieße den kurzen, flüchtigen Schleier zwischen ihr und mir. Ihr Blick ruht auf mir und meine Romanhelden flüstern mir Dinge ins Ohr, stacheln mich an, sagen mir Dinge, die ich ihnen vorher in meinem früheren Leben, auf den Leib geschrieben habe und mein Kopf ist zu müde, ich bin matt, ich bin nicht schön. Mein Haar fällt wieder in die Stirn, zum Glück habe ich noch volles Haar, meine Gedanken machen mich lächerlich, meine Romanhelden verbanne ich aus meinen Gedanken, aus meinem Kopf. Ich muss lachen, meine Romanhelden, Ausgeburten meiner Geisteskraft, wollen mich belehren, leiten, beraten. Ich, der Herr über meine Romanhelden, werde zum Hund meiner Romanhelden, meiner eigenen Geschöpfe, die mich an der Leine führen wollen, damit ich an dem Baum mein Bein hebe, an den sie mich führen.
Wie einfach wäre es, wenn ich nun auf diese Frau zugehe, ihr die Frage aller Fragen stelle und dabei wird mir bewusst, ich kenne die Frage aller Fragen nicht. Ist es der Sinn des Lebens oder der Sinn dieser Nacht? Nächte haben keinen Sinn. Lotterbetten haben einen Sinn, doch diesen Sinn kennen nur die Schönen, die sich in beidseitiger Schönheit erkannt haben um die Laken der Betten zu zerwühlen und die Nacht mit Sinn füllen.
Ich bin nicht schön und doch will ich Laken zerwühlen, diese Nacht mit Sinn füllen, will Schönheit erkennen, will Schönheit ergründen, will kleine, feuchte Perlen der Lust trinken.
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Michael K. Trout 07/10/2005 14:11
Danke, Ihr versteht meine Texte, meine Gedanken. Das ist viel mehr, als viele Menschen erwarten dürfen.Grüße, Michael
Slow Photo 07/10/2005 13:09
Ich kann leider als "Freemember" nicht alle Bilder sehen, nicht alle Texte lesen aus dieser Reihe. Das ist das Übel der Freiheit. Aber hier passen für mich Text und die darin enthaltene Beschreibung Deiner Gedanken- und Gefühlswelt sehr gut mit dem Bild zusammen. Ich kann das sehr gut nachempfinden und erinnere mich an ähnliche Situationen, in denen ich wie wohl jeder hier auch schon war. Manchmal habe ich diese Unerreichbarkeit genossen und mich genüsslich darin gesuhlt der Verlierer zu sein.EM. G. 07/10/2005 0:19
"perlen der lust" ein wundervoller ausdruck!ich mag deine gedanken und träume, mr.trout!
6th Element 05/10/2005 16:17
nicelg m